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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Vorwegnahme. Denn wie gewiß es ist, daß die Naturbasis des Charakters
erst wahrhaft als Eigenheit gesetzt wird durch das Eindringen des Geistes
in sie, sie bleibt Naturbasis, ihre Züge sind dem Aeußeren fest aufgedrückt,
ehe der Wille sich ihrer bemächtigt, sie bestimmt die ganze Oberfläche,
Bewegung, Aeußerungsweise, und was immer durch Umbilden aus ihr wird,
das Individuum kann niemals völlig über sie hinaus. Sie ist aber
zufällig, denn sie ist unter unberechenbaren und jedem Einwirken der
Absicht entzogenen Umständen der Zeugung u. s. w. entstanden und an-
geboren.

§. 39.

Die Streitfrage, ob das Schöne zu bestimmen sey als das Charakteristische,
ist eine müßige; denn unter dem Charakteristischen sind ebensowohl die Grund-
züge der Gattung und der ihr untergeordneten Besonderheit der Art, als die
des Einzelwesens, wie sie aus seiner zufälligen Eigenheit fließen, zu verstehen,
und es folgt aus allem Bisherigen, daß im Schönen alle diese Momente gleich
wesentlich sind. Obwohl noch nicht erörtert ist, wie sich dieselben durchdringen,
so ist doch die Forderung gesetzt, daß sie sich durchdringen sollen, und in dieser
Durchdringung kann die Berechtigung des einen Moments nicht die des andern
ausschließen. Eine ganz andere Frage aber ist die, ob nicht das ganze Schöne
in unterschiedene Formen auseinander trete, in welchen das eine oder andere
dieser Momente zwar die übrigen nicht ausschließt, wohl aber als das be-
stimmende hervorsticht. Diese Frage gehört jedoch nicht hieher.

Die erste Andeutung dieser neuerdings vielfach abgehandelten Vexir-
frage findet sich in Winkelmanns bekannter Aeußerung, daß die höchste
Schönheit charakterlos sey. Er sagt (Gesch. d. Kunst Buch 4, Cap. 2,
§. 23), die Einheit der hohen Schönheit fordere eine Gestalt, die weder
dieser oder jener bestimmten Person eigen sey, noch irgend einen Zustand
des Gemüths oder Empfindung der Leidenschaft ausdrücke, als welche
fremde Züge in die Schönheit mischen und die Einheit unterbrechen. Nach
diesem Begriff müsse die Schönheit seyn wie das vollkommenste Wasser
aus dem Schooße der Quelle geschöpfet, welches, je weniger Geschmack
es hat, desto gesunder geachtet wird, weil es von allen fremden Theilen
geläutert ist. In vollem Widerspruch damit steht, was Kant sagt
(Kr. d. ästh. Urtheilskr. §. 17): die vollkommene Normalgestalt dürfe
nichts spezifisch Charakteristisches enthalten, sey aber nicht Urbild der

Vorwegnahme. Denn wie gewiß es iſt, daß die Naturbaſis des Charakters
erſt wahrhaft als Eigenheit geſetzt wird durch das Eindringen des Geiſtes
in ſie, ſie bleibt Naturbaſis, ihre Züge ſind dem Aeußeren feſt aufgedrückt,
ehe der Wille ſich ihrer bemächtigt, ſie beſtimmt die ganze Oberfläche,
Bewegung, Aeußerungsweiſe, und was immer durch Umbilden aus ihr wird,
das Individuum kann niemals völlig über ſie hinaus. Sie iſt aber
zufällig, denn ſie iſt unter unberechenbaren und jedem Einwirken der
Abſicht entzogenen Umſtänden der Zeugung u. ſ. w. entſtanden und an-
geboren.

§. 39.

Die Streitfrage, ob das Schöne zu beſtimmen ſey als das Charakteriſtiſche,
iſt eine müßige; denn unter dem Charakteriſtiſchen ſind ebenſowohl die Grund-
züge der Gattung und der ihr untergeordneten Beſonderheit der Art, als die
des Einzelweſens, wie ſie aus ſeiner zufälligen Eigenheit fließen, zu verſtehen,
und es folgt aus allem Bisherigen, daß im Schönen alle dieſe Momente gleich
weſentlich ſind. Obwohl noch nicht erörtert iſt, wie ſich dieſelben durchdringen,
ſo iſt doch die Forderung geſetzt, daß ſie ſich durchdringen ſollen, und in dieſer
Durchdringung kann die Berechtigung des einen Moments nicht die des andern
ausſchließen. Eine ganz andere Frage aber iſt die, ob nicht das ganze Schöne
in unterſchiedene Formen auseinander trete, in welchen das eine oder andere
dieſer Momente zwar die übrigen nicht ausſchließt, wohl aber als das be-
ſtimmende hervorſticht. Dieſe Frage gehört jedoch nicht hieher.

Die erſte Andeutung dieſer neuerdings vielfach abgehandelten Vexir-
frage findet ſich in Winkelmanns bekannter Aeußerung, daß die höchſte
Schönheit charakterlos ſey. Er ſagt (Geſch. d. Kunſt Buch 4, Cap. 2,
§. 23), die Einheit der hohen Schönheit fordere eine Geſtalt, die weder
dieſer oder jener beſtimmten Perſon eigen ſey, noch irgend einen Zuſtand
des Gemüths oder Empfindung der Leidenſchaft ausdrücke, als welche
fremde Züge in die Schönheit miſchen und die Einheit unterbrechen. Nach
dieſem Begriff müſſe die Schönheit ſeyn wie das vollkommenſte Waſſer
aus dem Schooße der Quelle geſchöpfet, welches, je weniger Geſchmack
es hat, deſto geſunder geachtet wird, weil es von allen fremden Theilen
geläutert iſt. In vollem Widerſpruch damit ſteht, was Kant ſagt
(Kr. d. äſth. Urtheilskr. §. 17): die vollkommene Normalgeſtalt dürfe
nichts ſpezifiſch Charakteriſtiſches enthalten, ſey aber nicht Urbild der

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[111/0125] Vorwegnahme. Denn wie gewiß es iſt, daß die Naturbaſis des Charakters erſt wahrhaft als Eigenheit geſetzt wird durch das Eindringen des Geiſtes in ſie, ſie bleibt Naturbaſis, ihre Züge ſind dem Aeußeren feſt aufgedrückt, ehe der Wille ſich ihrer bemächtigt, ſie beſtimmt die ganze Oberfläche, Bewegung, Aeußerungsweiſe, und was immer durch Umbilden aus ihr wird, das Individuum kann niemals völlig über ſie hinaus. Sie iſt aber zufällig, denn ſie iſt unter unberechenbaren und jedem Einwirken der Abſicht entzogenen Umſtänden der Zeugung u. ſ. w. entſtanden und an- geboren. §. 39. Die Streitfrage, ob das Schöne zu beſtimmen ſey als das Charakteriſtiſche, iſt eine müßige; denn unter dem Charakteriſtiſchen ſind ebenſowohl die Grund- züge der Gattung und der ihr untergeordneten Beſonderheit der Art, als die des Einzelweſens, wie ſie aus ſeiner zufälligen Eigenheit fließen, zu verſtehen, und es folgt aus allem Bisherigen, daß im Schönen alle dieſe Momente gleich weſentlich ſind. Obwohl noch nicht erörtert iſt, wie ſich dieſelben durchdringen, ſo iſt doch die Forderung geſetzt, daß ſie ſich durchdringen ſollen, und in dieſer Durchdringung kann die Berechtigung des einen Moments nicht die des andern ausſchließen. Eine ganz andere Frage aber iſt die, ob nicht das ganze Schöne in unterſchiedene Formen auseinander trete, in welchen das eine oder andere dieſer Momente zwar die übrigen nicht ausſchließt, wohl aber als das be- ſtimmende hervorſticht. Dieſe Frage gehört jedoch nicht hieher. Die erſte Andeutung dieſer neuerdings vielfach abgehandelten Vexir- frage findet ſich in Winkelmanns bekannter Aeußerung, daß die höchſte Schönheit charakterlos ſey. Er ſagt (Geſch. d. Kunſt Buch 4, Cap. 2, §. 23), die Einheit der hohen Schönheit fordere eine Geſtalt, die weder dieſer oder jener beſtimmten Perſon eigen ſey, noch irgend einen Zuſtand des Gemüths oder Empfindung der Leidenſchaft ausdrücke, als welche fremde Züge in die Schönheit miſchen und die Einheit unterbrechen. Nach dieſem Begriff müſſe die Schönheit ſeyn wie das vollkommenſte Waſſer aus dem Schooße der Quelle geſchöpfet, welches, je weniger Geſchmack es hat, deſto geſunder geachtet wird, weil es von allen fremden Theilen geläutert iſt. In vollem Widerſpruch damit ſteht, was Kant ſagt (Kr. d. äſth. Urtheilskr. §. 17): die vollkommene Normalgeſtalt dürfe nichts ſpezifiſch Charakteriſtiſches enthalten, ſey aber nicht Urbild der

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/125>, abgerufen am 21.11.2024.