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Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858.

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Dritte Vorlesung.
Es handelt sich dabei um eigentliche Neoplasmen, um das,
was im Laufe pathologischer Processe an neuen Geweben zu-
wächst, und es fragt sich: lässt sich das, was wir physiolo-
gisch als allgemeine Typen der Gewebe hingestellt haben, auch
pathologisch festhalten? Darauf antworte ich ohne Rückhalt:
ja, und so sehr ich auch darin abweiche von vielen der leben-
den Zeitgenossen, so bestimmt man auch in den letzten Jahren
die besondere (specifische) Natur vieler pathologischen Ge-
webe hervorgehoben hat, so will ich doch versuchen, im Laufe
dieser Vorlesungen den Beweis zu liefern, dass jedes patholo-
gische Gebilde ein physiologisches Vorbild hat, und dass
keine pathologische Form entsteht, die in ihren Elementen nicht
zurückgeführt werden könnte auf einen in der Oekonomie an
und für sich prästabilirten Vorgang.

Die Classification der pathologischen Neubildungen, der
eigentlichen Neoplasmen, ist früherhin meistentheils versucht
worden vom Standpunkte der Vascularisation aus. Wenn
Sie die verschiedenen Studien betrachten, welche in dieser
Richtung bis zur Zeit der Zellentheorie gemacht sind, so wer-
den Sie finden, dass man die Frage von der Organisation
immer entschieden hat durch die Frage von der Vascularisation.
Man nahm jeden Theil als organisirt, der Gefässe enthielt, jeden
als nicht organisirt, der keine Gefässe führte. Dies ist für den
heutigen Standpunkt an sich schon eine Unrichtigkeit, insofern wir
auch physiologische Gewebe ohne Gefässe, z. B. die Knorpel haben.

Aber zu der Zeit, wo man die feineren Elemente höch-
stens als Kügelchen kannte und diesen Kügelchen sehr ver-
schiedene Bedeutung beilegte, war es zu verzeihen, dass
man sich an die Gefässe hielt, insbesondere seit John
Hunter
die Vergleichung der pathologischen Neubildung
mit der Entwicklung des Hühnchens im Ei gemacht und zu
zeigen versucht hatte, dass ähnlich, wie das Punctum saliens
im Hühnerei die erste Lebenserscheinung darstelle, so auch
in pathologischen Bildungen das Gefäss das Erste sei.
Sie werden sich noch erinnern, wie von Rust und Kluge
manche "parasitischen" Neubildungen als versehen mit einem
unabhängigen Gefässsystem beschrieben wurden, welches,
ohne Wurzel in den alten Gefässen, sich wie im Hühn-

Dritte Vorlesung.
Es handelt sich dabei um eigentliche Neoplasmen, um das,
was im Laufe pathologischer Processe an neuen Geweben zu-
wächst, und es fragt sich: lässt sich das, was wir physiolo-
gisch als allgemeine Typen der Gewebe hingestellt haben, auch
pathologisch festhalten? Darauf antworte ich ohne Rückhalt:
ja, und so sehr ich auch darin abweiche von vielen der leben-
den Zeitgenossen, so bestimmt man auch in den letzten Jahren
die besondere (specifische) Natur vieler pathologischen Ge-
webe hervorgehoben hat, so will ich doch versuchen, im Laufe
dieser Vorlesungen den Beweis zu liefern, dass jedes patholo-
gische Gebilde ein physiologisches Vorbild hat, und dass
keine pathologische Form entsteht, die in ihren Elementen nicht
zurückgeführt werden könnte auf einen in der Oekonomie an
und für sich prästabilirten Vorgang.

Die Classification der pathologischen Neubildungen, der
eigentlichen Neoplasmen, ist früherhin meistentheils versucht
worden vom Standpunkte der Vascularisation aus. Wenn
Sie die verschiedenen Studien betrachten, welche in dieser
Richtung bis zur Zeit der Zellentheorie gemacht sind, so wer-
den Sie finden, dass man die Frage von der Organisation
immer entschieden hat durch die Frage von der Vascularisation.
Man nahm jeden Theil als organisirt, der Gefässe enthielt, jeden
als nicht organisirt, der keine Gefässe führte. Dies ist für den
heutigen Standpunkt an sich schon eine Unrichtigkeit, insofern wir
auch physiologische Gewebe ohne Gefässe, z. B. die Knorpel haben.

Aber zu der Zeit, wo man die feineren Elemente höch-
stens als Kügelchen kannte und diesen Kügelchen sehr ver-
schiedene Bedeutung beilegte, war es zu verzeihen, dass
man sich an die Gefässe hielt, insbesondere seit John
Hunter
die Vergleichung der pathologischen Neubildung
mit der Entwicklung des Hühnchens im Ei gemacht und zu
zeigen versucht hatte, dass ähnlich, wie das Punctum saliens
im Hühnerei die erste Lebenserscheinung darstelle, so auch
in pathologischen Bildungen das Gefäss das Erste sei.
Sie werden sich noch erinnern, wie von Rust und Kluge
manche „parasitischen“ Neubildungen als versehen mit einem
unabhängigen Gefässsystem beschrieben wurden, welches,
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[54/0076] Dritte Vorlesung. Es handelt sich dabei um eigentliche Neoplasmen, um das, was im Laufe pathologischer Processe an neuen Geweben zu- wächst, und es fragt sich: lässt sich das, was wir physiolo- gisch als allgemeine Typen der Gewebe hingestellt haben, auch pathologisch festhalten? Darauf antworte ich ohne Rückhalt: ja, und so sehr ich auch darin abweiche von vielen der leben- den Zeitgenossen, so bestimmt man auch in den letzten Jahren die besondere (specifische) Natur vieler pathologischen Ge- webe hervorgehoben hat, so will ich doch versuchen, im Laufe dieser Vorlesungen den Beweis zu liefern, dass jedes patholo- gische Gebilde ein physiologisches Vorbild hat, und dass keine pathologische Form entsteht, die in ihren Elementen nicht zurückgeführt werden könnte auf einen in der Oekonomie an und für sich prästabilirten Vorgang. Die Classification der pathologischen Neubildungen, der eigentlichen Neoplasmen, ist früherhin meistentheils versucht worden vom Standpunkte der Vascularisation aus. Wenn Sie die verschiedenen Studien betrachten, welche in dieser Richtung bis zur Zeit der Zellentheorie gemacht sind, so wer- den Sie finden, dass man die Frage von der Organisation immer entschieden hat durch die Frage von der Vascularisation. Man nahm jeden Theil als organisirt, der Gefässe enthielt, jeden als nicht organisirt, der keine Gefässe führte. Dies ist für den heutigen Standpunkt an sich schon eine Unrichtigkeit, insofern wir auch physiologische Gewebe ohne Gefässe, z. B. die Knorpel haben. Aber zu der Zeit, wo man die feineren Elemente höch- stens als Kügelchen kannte und diesen Kügelchen sehr ver- schiedene Bedeutung beilegte, war es zu verzeihen, dass man sich an die Gefässe hielt, insbesondere seit John Hunter die Vergleichung der pathologischen Neubildung mit der Entwicklung des Hühnchens im Ei gemacht und zu zeigen versucht hatte, dass ähnlich, wie das Punctum saliens im Hühnerei die erste Lebenserscheinung darstelle, so auch in pathologischen Bildungen das Gefäss das Erste sei. Sie werden sich noch erinnern, wie von Rust und Kluge manche „parasitischen“ Neubildungen als versehen mit einem unabhängigen Gefässsystem beschrieben wurden, welches, ohne Wurzel in den alten Gefässen, sich wie im Hühn-

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Zitationshilfe: Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/virchow_cellularpathologie_1858/76>, abgerufen am 26.04.2024.