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Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858.

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Eilfte Vorlesung.
also eine permanente Dyscrasie möglich wäre, ohne dass neue
Einwirkungen von einem einzelnen Atrium aus auf das Blut
stattfinden. Das ist der Grund, weshalb ich Ihnen von vorn-
herein diesen, wie ich glaube, auch für die Praxis ausseror-
dentlich wichtigen Gesichtspunkt hervorhebe, dass es sich bei
allen Formen der Dyscrasie darum handele, ihren örtlichen
Grund aufzusuchen. --

Lassen Sie uns jetzt ein anderes Kapitel in Angriff neh-
men, das der historischen Bedeutung nach sich hier zu-
nächst anschliesst, nämlich die Zustände des Nerven-
Apparates
.

Die überwiegende Masse des Nervenapparates besteht aus
faserigen Bestandtheilen. Diese sind es auch, auf welche
sich fast alle die feineren, physiologischen Entdeckungen be-
ziehen, welche die letzten Jahrzehnte gebracht haben, während
der andere, der Masse nach viel kleinere Theil des Nerven-
apparates, die graue oder gangliöse Substanz, bis jetzt selbst
der histologischen Untersuchung Schwierigkeiten entgegenge-
stellt hat, welche noch lange nicht überwunden sind, so dass
die experimentelle Erforschung dieser Substanz kaum in An-
griff genommen werden konnte. Es wird freilich oft behaup-
tet, man wisse heute viel von dem Nervensystem, aber unsere
Kenntniss beschränkt sich grossentheils auf die weisse Masse,
den faserigen Antheil, während wir leider zugestehen müssen,
dass wir über die, ihrer Bedeutung nach offenbar viel höher
stehende graue Substanz immer noch sowohl anatomisch, als
namentlich physiologisch in den grössten Unsicherheiten uns
bewegen.

Sobald man die Frage von der Bedeutung des Ner-
vensystems innerhalb der Lebensvorgänge anatomisch betrach-
tet, so ergibt ein einziger Blick, dass der Gesichtspunkt, von
welchem die Neuro-Pathologie auszugehen pflegte, ein sehr
verfehlter ist. Denn sie dachte sich im Nervensystem ein un-
gewöhnlich Einfaches, das durch seine Einheit zugleich die
Einheit des Körpers überhaupt, des ganzen Organismus bedin-
gen sollte. Aber selbst, wenn man auch nur ganz grobe ana-
tomische Vorstellungen über die Nerven hat, so sollte man

Eilfte Vorlesung.
also eine permanente Dyscrasie möglich wäre, ohne dass neue
Einwirkungen von einem einzelnen Atrium aus auf das Blut
stattfinden. Das ist der Grund, weshalb ich Ihnen von vorn-
herein diesen, wie ich glaube, auch für die Praxis ausseror-
dentlich wichtigen Gesichtspunkt hervorhebe, dass es sich bei
allen Formen der Dyscrasie darum handele, ihren örtlichen
Grund aufzusuchen. —

Lassen Sie uns jetzt ein anderes Kapitel in Angriff neh-
men, das der historischen Bedeutung nach sich hier zu-
nächst anschliesst, nämlich die Zustände des Nerven-
Apparates
.

Die überwiegende Masse des Nervenapparates besteht aus
faserigen Bestandtheilen. Diese sind es auch, auf welche
sich fast alle die feineren, physiologischen Entdeckungen be-
ziehen, welche die letzten Jahrzehnte gebracht haben, während
der andere, der Masse nach viel kleinere Theil des Nerven-
apparates, die graue oder gangliöse Substanz, bis jetzt selbst
der histologischen Untersuchung Schwierigkeiten entgegenge-
stellt hat, welche noch lange nicht überwunden sind, so dass
die experimentelle Erforschung dieser Substanz kaum in An-
griff genommen werden konnte. Es wird freilich oft behaup-
tet, man wisse heute viel von dem Nervensystem, aber unsere
Kenntniss beschränkt sich grossentheils auf die weisse Masse,
den faserigen Antheil, während wir leider zugestehen müssen,
dass wir über die, ihrer Bedeutung nach offenbar viel höher
stehende graue Substanz immer noch sowohl anatomisch, als
namentlich physiologisch in den grössten Unsicherheiten uns
bewegen.

Sobald man die Frage von der Bedeutung des Ner-
vensystems innerhalb der Lebensvorgänge anatomisch betrach-
tet, so ergibt ein einziger Blick, dass der Gesichtspunkt, von
welchem die Neuro-Pathologie auszugehen pflegte, ein sehr
verfehlter ist. Denn sie dachte sich im Nervensystem ein un-
gewöhnlich Einfaches, das durch seine Einheit zugleich die
Einheit des Körpers überhaupt, des ganzen Organismus bedin-
gen sollte. Aber selbst, wenn man auch nur ganz grobe ana-
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[204/0226] Eilfte Vorlesung. also eine permanente Dyscrasie möglich wäre, ohne dass neue Einwirkungen von einem einzelnen Atrium aus auf das Blut stattfinden. Das ist der Grund, weshalb ich Ihnen von vorn- herein diesen, wie ich glaube, auch für die Praxis ausseror- dentlich wichtigen Gesichtspunkt hervorhebe, dass es sich bei allen Formen der Dyscrasie darum handele, ihren örtlichen Grund aufzusuchen. — Lassen Sie uns jetzt ein anderes Kapitel in Angriff neh- men, das der historischen Bedeutung nach sich hier zu- nächst anschliesst, nämlich die Zustände des Nerven- Apparates. Die überwiegende Masse des Nervenapparates besteht aus faserigen Bestandtheilen. Diese sind es auch, auf welche sich fast alle die feineren, physiologischen Entdeckungen be- ziehen, welche die letzten Jahrzehnte gebracht haben, während der andere, der Masse nach viel kleinere Theil des Nerven- apparates, die graue oder gangliöse Substanz, bis jetzt selbst der histologischen Untersuchung Schwierigkeiten entgegenge- stellt hat, welche noch lange nicht überwunden sind, so dass die experimentelle Erforschung dieser Substanz kaum in An- griff genommen werden konnte. Es wird freilich oft behaup- tet, man wisse heute viel von dem Nervensystem, aber unsere Kenntniss beschränkt sich grossentheils auf die weisse Masse, den faserigen Antheil, während wir leider zugestehen müssen, dass wir über die, ihrer Bedeutung nach offenbar viel höher stehende graue Substanz immer noch sowohl anatomisch, als namentlich physiologisch in den grössten Unsicherheiten uns bewegen. Sobald man die Frage von der Bedeutung des Ner- vensystems innerhalb der Lebensvorgänge anatomisch betrach- tet, so ergibt ein einziger Blick, dass der Gesichtspunkt, von welchem die Neuro-Pathologie auszugehen pflegte, ein sehr verfehlter ist. Denn sie dachte sich im Nervensystem ein un- gewöhnlich Einfaches, das durch seine Einheit zugleich die Einheit des Körpers überhaupt, des ganzen Organismus bedin- gen sollte. Aber selbst, wenn man auch nur ganz grobe ana- tomische Vorstellungen über die Nerven hat, so sollte man

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Zitationshilfe: Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/virchow_cellularpathologie_1858/226>, abgerufen am 26.04.2024.