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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

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An Frau von V., in Baden.


Warmes ängstigendes Wetter mit Feuchtigkeit, und jetzt
Sonne. Ich sage, die Krankheiten kommen rein da-
her
. Es ist seit Jahren, die ich fühle, und leide,
die größte Wetterrevolution.

Wer giebt Ihnen diesen Brief, theure Einzige? Ludwig,
Rike. Ja, die kommen nach Baden: die bleiben dort. Ich
gratulire euch Allen. Und -- unmöglich ist es nicht, daß wir
uns diesen Herbst noch sehen. Kommt die Cholera nicht her,
so mache ich noch eine Reise. Fragen Sie Robert, Rike, aus,
die werden Ihnen alles von der armen Rahel sagen. Unglück-
lich ist sie nicht. Die Zeit ist vorbei. Sie glaubt und hofft
nicht mehr auf Glück: kennt die Erde, und was sie beut, und
bieten kann; sie ist aber glücklich, glückselig, wenn sie nicht
grade gequält wird. Und flammend glücklich, sich in dem
Zustand zu befinden, Sie alle Jahre besuchen zu können;
wenn vom Himmel herabströmende Seuchen es nicht verhin-
dern wollen. Denkt meiner; ich bin bei euch. So auch noch
nach meinem Begräbniß. Ein Traum; ein Schwindel: keine
Hand hält die Vergangenheit, sie rinnt durch; keine greift die
Zukunft; sie ist nicht da. Aber die Ewigkeit ist da: in den
wirklichen Lebensmomenten, in Leidenschaft, in Zorn, Liebe, in
edler Überzeugung, und ihren Wirkungen, haben wir sie ganz;
darum handeln und wollen wir auch in solchen Momenten
ohne Rücksicht auf Zeit; darum Glück und Leid der Liebe un-
endlich. Verstanden? Ja. Lesen Sie's Robert. Meine Ein-

An Frau von V., in Baden.


Warmes ängſtigendes Wetter mit Feuchtigkeit, und jetzt
Sonne. Ich ſage, die Krankheiten kommen rein da-
her
. Es iſt ſeit Jahren, die ich fühle, und leide,
die größte Wetterrevolution.

Wer giebt Ihnen dieſen Brief, theure Einzige? Ludwig,
Rike. Ja, die kommen nach Baden: die bleiben dort. Ich
gratulire euch Allen. Und — unmöglich iſt es nicht, daß wir
uns dieſen Herbſt noch ſehen. Kommt die Cholera nicht her,
ſo mache ich noch eine Reiſe. Fragen Sie Robert, Rike, aus,
die werden Ihnen alles von der armen Rahel ſagen. Unglück-
lich iſt ſie nicht. Die Zeit iſt vorbei. Sie glaubt und hofft
nicht mehr auf Glück: kennt die Erde, und was ſie beut, und
bieten kann; ſie iſt aber glücklich, glückſelig, wenn ſie nicht
grade gequält wird. Und flammend glücklich, ſich in dem
Zuſtand zu befinden, Sie alle Jahre beſuchen zu können;
wenn vom Himmel herabſtrömende Seuchen es nicht verhin-
dern wollen. Denkt meiner; ich bin bei euch. So auch noch
nach meinem Begräbniß. Ein Traum; ein Schwindel: keine
Hand hält die Vergangenheit, ſie rinnt durch; keine greift die
Zukunft; ſie iſt nicht da. Aber die Ewigkeit iſt da: in den
wirklichen Lebensmomenten, in Leidenſchaft, in Zorn, Liebe, in
edler Überzeugung, und ihren Wirkungen, haben wir ſie ganz;
darum handeln und wollen wir auch in ſolchen Momenten
ohne Rückſicht auf Zeit; darum Glück und Leid der Liebe un-
endlich. Verſtanden? Ja. Leſen Sie’s Robert. Meine Ein-

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[507/0515] An Frau von V., in Baden. Freitag, den 29. Juli 1831. Morgens 10 Uhr. Warmes ängſtigendes Wetter mit Feuchtigkeit, und jetzt Sonne. Ich ſage, die Krankheiten kommen rein da- her. Es iſt ſeit Jahren, die ich fühle, und leide, die größte Wetterrevolution. Wer giebt Ihnen dieſen Brief, theure Einzige? Ludwig, Rike. Ja, die kommen nach Baden: die bleiben dort. Ich gratulire euch Allen. Und — unmöglich iſt es nicht, daß wir uns dieſen Herbſt noch ſehen. Kommt die Cholera nicht her, ſo mache ich noch eine Reiſe. Fragen Sie Robert, Rike, aus, die werden Ihnen alles von der armen Rahel ſagen. Unglück- lich iſt ſie nicht. Die Zeit iſt vorbei. Sie glaubt und hofft nicht mehr auf Glück: kennt die Erde, und was ſie beut, und bieten kann; ſie iſt aber glücklich, glückſelig, wenn ſie nicht grade gequält wird. Und flammend glücklich, ſich in dem Zuſtand zu befinden, Sie alle Jahre beſuchen zu können; wenn vom Himmel herabſtrömende Seuchen es nicht verhin- dern wollen. Denkt meiner; ich bin bei euch. So auch noch nach meinem Begräbniß. Ein Traum; ein Schwindel: keine Hand hält die Vergangenheit, ſie rinnt durch; keine greift die Zukunft; ſie iſt nicht da. Aber die Ewigkeit iſt da: in den wirklichen Lebensmomenten, in Leidenſchaft, in Zorn, Liebe, in edler Überzeugung, und ihren Wirkungen, haben wir ſie ganz; darum handeln und wollen wir auch in ſolchen Momenten ohne Rückſicht auf Zeit; darum Glück und Leid der Liebe un- endlich. Verſtanden? Ja. Leſen Sie’s Robert. Meine Ein-

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 507. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/515>, abgerufen am 20.11.2024.