Der Kunst Bestreben ist, alle Bedingungen, unter welchen die Forderungen der menschlich-geistigen Natur befriedigt werden, zu erfüllen; vornämlich durch Vorstellungen eines bessern Zustandes, als der ist, in welchem wir uns befinden können, -- wenn auch nur durch solche Bilder gezeigt, die uns an dem Zustand, den wir ewig erstreben müssen, verhin- dern. Dies geschehe nun durch Bilder -- jeder Art -- oder durch die Rede -- jeder Art, -- durch Vorstellungen, die sich auf leibliches Dasein, oder auf das von unsern Gedanken hervorgebrachte beziehen. Kunst ist nichts als das Kinderspiel der Erwachsenen. Sie sind bemüht, sich ein Dasein vorzu- spielen, welches sie nicht erreichen können, über welches sie keine Herrschaft haben. Dieser große Trieb, dies unabweis- bare Bestreben, dieses Suchen nach einem Surrogat, dies Neu- bilden -- ist auch schon in Kindern höchst ehrwürdig, gar nicht scherzhaft, sondern tiefer Ernst.
An Varnhagen, in Kassel.
Sonntag 11 Uhr, den 1. Februar 1829.
Dicker Schnee, Nordwind. Hast du ihn rechts, fast im Rücken.
Gestern Abend um 8 mit den beiden Kindern auf'm So- pha, kam dein lieber unerwarteter Brief. Wie ein Frühlings- regen mit großen Tropfen erweichte und beruhigte und er- quickte er mich. Nun bin ich über dich ganz ruhig; ja ver- gnügt. Höre von mir. Die vorige Nacht war nicht so schön,
Januar, 1829.
Der Kunſt Beſtreben iſt, alle Bedingungen, unter welchen die Forderungen der menſchlich-geiſtigen Natur befriedigt werden, zu erfüllen; vornämlich durch Vorſtellungen eines beſſern Zuſtandes, als der iſt, in welchem wir uns befinden können, — wenn auch nur durch ſolche Bilder gezeigt, die uns an dem Zuſtand, den wir ewig erſtreben müſſen, verhin- dern. Dies geſchehe nun durch Bilder — jeder Art — oder durch die Rede — jeder Art, — durch Vorſtellungen, die ſich auf leibliches Daſein, oder auf das von unſern Gedanken hervorgebrachte beziehen. Kunſt iſt nichts als das Kinderſpiel der Erwachſenen. Sie ſind bemüht, ſich ein Daſein vorzu- ſpielen, welches ſie nicht erreichen können, über welches ſie keine Herrſchaft haben. Dieſer große Trieb, dies unabweis- bare Beſtreben, dieſes Suchen nach einem Surrogat, dies Neu- bilden — iſt auch ſchon in Kindern höchſt ehrwürdig, gar nicht ſcherzhaft, ſondern tiefer Ernſt.
An Varnhagen, in Kaſſel.
Sonntag 11 Uhr, den 1. Februar 1829.
Dicker Schnee, Nordwind. Haſt du ihn rechts, faſt im Rücken.
Geſtern Abend um 8 mit den beiden Kindern auf’m So- pha, kam dein lieber unerwarteter Brief. Wie ein Frühlings- regen mit großen Tropfen erweichte und beruhigte und er- quickte er mich. Nun bin ich über dich ganz ruhig; ja ver- gnügt. Höre von mir. Die vorige Nacht war nicht ſo ſchön,
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Januar, 1829.
Der Kunſt Beſtreben iſt, alle Bedingungen, unter welchen
die Forderungen der menſchlich-geiſtigen Natur befriedigt
werden, zu erfüllen; vornämlich durch Vorſtellungen eines
beſſern Zuſtandes, als der iſt, in welchem wir uns befinden
können, — wenn auch nur durch ſolche Bilder gezeigt, die
uns an dem Zuſtand, den wir ewig erſtreben müſſen, verhin-
dern. Dies geſchehe nun durch Bilder — jeder Art — oder
durch die Rede — jeder Art, — durch Vorſtellungen, die ſich
auf leibliches Daſein, oder auf das von unſern Gedanken
hervorgebrachte beziehen. Kunſt iſt nichts als das Kinderſpiel
der Erwachſenen. Sie ſind bemüht, ſich ein Daſein vorzu-
ſpielen, welches ſie nicht erreichen können, über welches ſie
keine Herrſchaft haben. Dieſer große Trieb, dies unabweis-
bare Beſtreben, dieſes Suchen nach einem Surrogat, dies Neu-
bilden — iſt auch ſchon in Kindern höchſt ehrwürdig, gar
nicht ſcherzhaft, ſondern tiefer Ernſt.
An Varnhagen, in Kaſſel.
Sonntag 11 Uhr, den 1. Februar 1829.
Dicker Schnee, Nordwind. Haſt du ihn rechts, faſt
im Rücken.
Geſtern Abend um 8 mit den beiden Kindern auf’m So-
pha, kam dein lieber unerwarteter Brief. Wie ein Frühlings-
regen mit großen Tropfen erweichte und beruhigte und er-
quickte er mich. Nun bin ich über dich ganz ruhig; ja ver-
gnügt. Höre von mir. Die vorige Nacht war nicht ſo ſchön,
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/364>, abgerufen am 20.11.2024.
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