leben bezieht! -- Es ist barbarisch, leben zu wollen: -- Fried- rich Schlegel sagt: "Es ist die größte Anmaßung, eine Person sein zu wollen;" -- und auch darum ein Streit gegen alles andere; nicht leben wollen: gleich Friede! das Höchste aus einem Standpunkt! in dem wir im Leben nie bleiben können. --
S. 458. Herrlich über Gewissen! Im weitesten Sinn. Mir meine Meinung sehr bestätigt: "Ein Zustand außer der gemeinen Individualität." Also die Geschichte mit der Persön- lichkeit! Dies auf Physik angewandt, höchster Witzschlag! Und Rückschlag des Witzes auf hiesige Moral. --
"Ist unsre Unwissenheit etwa Bedingung unsrer Morali- tät? Wollen wir unwissend sein, weil wir es, bewandten Umständen nach, wollen müssen? Wir sind nur unwissend, weil wir es wollen." (S. 468.) Dies ist sehr schön zu ver- stehn! und gewiß fast Allen zu kühn. Ich glaube, er denkt an freien Willen. Wir sollen annehmen müssen, daß wir ihn haben. Wir fühlen dies Gelenk, und können es gebrauchen. Denken wir aber an Weltordnung; an die Illusion der Zeit; an Gottes Geistigkeit, an aller Geister Göttlichkeit: so schwin- det uns die vermeinte Wahl. Illusion aber, ist uns hier ganz hinlänglich; es ist Pflicht hier -- heißt, in ihr -- nach ihr zu handlen. Sie ist hier für uns veranstaltet. So hoch, und so klein denk' ich von unsern Pflichten. --
Montag, den 15. März 1824.
Wir haben eine Freiheit, die hier nicht anwendbar ist: daraus entstehen die Täuschung und die Frage; Täuschung über Freiheit; Frage nach Freiheit. --
leben bezieht! — Es iſt barbariſch, leben zu wollen: — Fried- rich Schlegel ſagt: „Es iſt die größte Anmaßung, eine Perſon ſein zu wollen;“ — und auch darum ein Streit gegen alles andere; nicht leben wollen: gleich Friede! das Höchſte aus einem Standpunkt! in dem wir im Leben nie bleiben können. —
S. 458. Herrlich über Gewiſſen! Im weiteſten Sinn. Mir meine Meinung ſehr beſtätigt: „Ein Zuſtand außer der gemeinen Individualität.“ Alſo die Geſchichte mit der Perſön- lichkeit! Dies auf Phyſik angewandt, höchſter Witzſchlag! Und Rückſchlag des Witzes auf hieſige Moral. —
„Iſt unſre Unwiſſenheit etwa Bedingung unſrer Morali- tät? Wollen wir unwiſſend ſein, weil wir es, bewandten Umſtänden nach, wollen müſſen? Wir ſind nur unwiſſend, weil wir es wollen.“ (S. 468.) Dies iſt ſehr ſchön zu ver- ſtehn! und gewiß faſt Allen zu kühn. Ich glaube, er denkt an freien Willen. Wir ſollen annehmen müſſen, daß wir ihn haben. Wir fühlen dies Gelenk, und können es gebrauchen. Denken wir aber an Weltordnung; an die Illuſion der Zeit; an Gottes Geiſtigkeit, an aller Geiſter Göttlichkeit: ſo ſchwin- det uns die vermeinte Wahl. Illuſion aber, iſt uns hier ganz hinlänglich; es iſt Pflicht hier — heißt, in ihr — nach ihr zu handlen. Sie iſt hier für uns veranſtaltet. So hoch, und ſo klein denk’ ich von unſern Pflichten. —
Montag, den 15. März 1824.
Wir haben eine Freiheit, die hier nicht anwendbar iſt: daraus entſtehen die Täuſchung und die Frage; Täuſchung über Freiheit; Frage nach Freiheit. —
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0157"n="149"/>
leben bezieht! — Es iſt barbariſch, leben zu wollen: — Fried-<lb/>
rich Schlegel ſagt: „Es iſt die größte Anmaßung, eine Perſon<lb/>ſein zu wollen;“— und auch darum ein Streit gegen alles<lb/>
andere; nicht leben wollen: gleich Friede! das Höchſte aus einem<lb/>
Standpunkt! in dem wir <hirendition="#g">im Leben</hi> nie bleiben können. —</p><lb/><p>S. 458. Herrlich über Gewiſſen! Im weiteſten Sinn.<lb/>
Mir meine Meinung ſehr beſtätigt: „Ein Zuſtand außer der<lb/>
gemeinen Individualität.“ Alſo die Geſchichte mit der Perſön-<lb/>
lichkeit! Dies auf Phyſik angewandt, höchſter Witzſchlag!<lb/>
Und Rückſchlag des Witzes auf hieſige Moral. —</p><lb/><p>„Iſt unſre Unwiſſenheit etwa Bedingung unſrer Morali-<lb/>
tät? Wollen wir unwiſſend ſein, weil wir es, bewandten<lb/>
Umſtänden nach, wollen müſſen? Wir ſind nur unwiſſend,<lb/>
weil wir es wollen.“ (S. 468.) Dies iſt ſehr ſchön zu ver-<lb/>ſtehn! und gewiß faſt Allen zu kühn. Ich glaube, er denkt<lb/>
an freien Willen. Wir ſollen annehmen müſſen, daß wir ihn<lb/>
haben. Wir fühlen dies Gelenk, und können es gebrauchen.<lb/>
Denken wir aber an Weltordnung; an die Illuſion der Zeit;<lb/>
an Gottes Geiſtigkeit, an aller Geiſter Göttlichkeit: ſo ſchwin-<lb/>
det uns die vermeinte Wahl. Illuſion aber, iſt uns hier ganz<lb/>
hinlänglich; es iſt Pflicht hier — heißt, in ihr — nach ihr zu<lb/>
handlen. Sie iſt hier für uns veranſtaltet. So hoch, und<lb/>ſo klein denk’ ich von unſern Pflichten. —</p><lb/><dateline><hirendition="#et">Montag, den 15. März 1824.</hi></dateline></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><p>Wir haben eine Freiheit, die hier nicht anwendbar iſt:<lb/>
daraus entſtehen die Täuſchung und die Frage; Täuſchung<lb/>
über Freiheit; Frage nach Freiheit. —</p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[149/0157]
leben bezieht! — Es iſt barbariſch, leben zu wollen: — Fried-
rich Schlegel ſagt: „Es iſt die größte Anmaßung, eine Perſon
ſein zu wollen;“ — und auch darum ein Streit gegen alles
andere; nicht leben wollen: gleich Friede! das Höchſte aus einem
Standpunkt! in dem wir im Leben nie bleiben können. —
S. 458. Herrlich über Gewiſſen! Im weiteſten Sinn.
Mir meine Meinung ſehr beſtätigt: „Ein Zuſtand außer der
gemeinen Individualität.“ Alſo die Geſchichte mit der Perſön-
lichkeit! Dies auf Phyſik angewandt, höchſter Witzſchlag!
Und Rückſchlag des Witzes auf hieſige Moral. —
„Iſt unſre Unwiſſenheit etwa Bedingung unſrer Morali-
tät? Wollen wir unwiſſend ſein, weil wir es, bewandten
Umſtänden nach, wollen müſſen? Wir ſind nur unwiſſend,
weil wir es wollen.“ (S. 468.) Dies iſt ſehr ſchön zu ver-
ſtehn! und gewiß faſt Allen zu kühn. Ich glaube, er denkt
an freien Willen. Wir ſollen annehmen müſſen, daß wir ihn
haben. Wir fühlen dies Gelenk, und können es gebrauchen.
Denken wir aber an Weltordnung; an die Illuſion der Zeit;
an Gottes Geiſtigkeit, an aller Geiſter Göttlichkeit: ſo ſchwin-
det uns die vermeinte Wahl. Illuſion aber, iſt uns hier ganz
hinlänglich; es iſt Pflicht hier — heißt, in ihr — nach ihr zu
handlen. Sie iſt hier für uns veranſtaltet. So hoch, und
ſo klein denk’ ich von unſern Pflichten. —
Montag, den 15. März 1824.
Wir haben eine Freiheit, die hier nicht anwendbar iſt:
daraus entſtehen die Täuſchung und die Frage; Täuſchung
über Freiheit; Frage nach Freiheit. —
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/157>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.