Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

leben bezieht! -- Es ist barbarisch, leben zu wollen: -- Fried-
rich Schlegel sagt: "Es ist die größte Anmaßung, eine Person
sein zu wollen;" -- und auch darum ein Streit gegen alles
andere; nicht leben wollen: gleich Friede! das Höchste aus einem
Standpunkt! in dem wir im Leben nie bleiben können. --

S. 458. Herrlich über Gewissen! Im weitesten Sinn.
Mir meine Meinung sehr bestätigt: "Ein Zustand außer der
gemeinen Individualität." Also die Geschichte mit der Persön-
lichkeit! Dies auf Physik angewandt, höchster Witzschlag!
Und Rückschlag des Witzes auf hiesige Moral. --

"Ist unsre Unwissenheit etwa Bedingung unsrer Morali-
tät? Wollen wir unwissend sein, weil wir es, bewandten
Umständen nach, wollen müssen? Wir sind nur unwissend,
weil wir es wollen." (S. 468.) Dies ist sehr schön zu ver-
stehn! und gewiß fast Allen zu kühn. Ich glaube, er denkt
an freien Willen. Wir sollen annehmen müssen, daß wir ihn
haben. Wir fühlen dies Gelenk, und können es gebrauchen.
Denken wir aber an Weltordnung; an die Illusion der Zeit;
an Gottes Geistigkeit, an aller Geister Göttlichkeit: so schwin-
det uns die vermeinte Wahl. Illusion aber, ist uns hier ganz
hinlänglich; es ist Pflicht hier -- heißt, in ihr -- nach ihr zu
handlen. Sie ist hier für uns veranstaltet. So hoch, und
so klein denk' ich von unsern Pflichten. --




Wir haben eine Freiheit, die hier nicht anwendbar ist:
daraus entstehen die Täuschung und die Frage; Täuschung
über Freiheit; Frage nach Freiheit. --


leben bezieht! — Es iſt barbariſch, leben zu wollen: — Fried-
rich Schlegel ſagt: „Es iſt die größte Anmaßung, eine Perſon
ſein zu wollen;“ — und auch darum ein Streit gegen alles
andere; nicht leben wollen: gleich Friede! das Höchſte aus einem
Standpunkt! in dem wir im Leben nie bleiben können. —

S. 458. Herrlich über Gewiſſen! Im weiteſten Sinn.
Mir meine Meinung ſehr beſtätigt: „Ein Zuſtand außer der
gemeinen Individualität.“ Alſo die Geſchichte mit der Perſön-
lichkeit! Dies auf Phyſik angewandt, höchſter Witzſchlag!
Und Rückſchlag des Witzes auf hieſige Moral. —

„Iſt unſre Unwiſſenheit etwa Bedingung unſrer Morali-
tät? Wollen wir unwiſſend ſein, weil wir es, bewandten
Umſtänden nach, wollen müſſen? Wir ſind nur unwiſſend,
weil wir es wollen.“ (S. 468.) Dies iſt ſehr ſchön zu ver-
ſtehn! und gewiß faſt Allen zu kühn. Ich glaube, er denkt
an freien Willen. Wir ſollen annehmen müſſen, daß wir ihn
haben. Wir fühlen dies Gelenk, und können es gebrauchen.
Denken wir aber an Weltordnung; an die Illuſion der Zeit;
an Gottes Geiſtigkeit, an aller Geiſter Göttlichkeit: ſo ſchwin-
det uns die vermeinte Wahl. Illuſion aber, iſt uns hier ganz
hinlänglich; es iſt Pflicht hier — heißt, in ihr — nach ihr zu
handlen. Sie iſt hier für uns veranſtaltet. So hoch, und
ſo klein denk’ ich von unſern Pflichten. —




Wir haben eine Freiheit, die hier nicht anwendbar iſt:
daraus entſtehen die Täuſchung und die Frage; Täuſchung
über Freiheit; Frage nach Freiheit. —


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0157" n="149"/>
leben bezieht! &#x2014; Es i&#x017F;t barbari&#x017F;ch, leben zu wollen: &#x2014; Fried-<lb/>
rich Schlegel &#x017F;agt: &#x201E;Es i&#x017F;t die größte Anmaßung, eine Per&#x017F;on<lb/>
&#x017F;ein zu wollen;&#x201C; &#x2014; und auch darum ein Streit gegen alles<lb/>
andere; nicht leben wollen: gleich Friede! das Höch&#x017F;te aus einem<lb/>
Standpunkt! in dem wir <hi rendition="#g">im Leben</hi> nie bleiben können. &#x2014;</p><lb/>
            <p>S. 458. Herrlich über Gewi&#x017F;&#x017F;en! Im weite&#x017F;ten Sinn.<lb/>
Mir meine Meinung &#x017F;ehr be&#x017F;tätigt: &#x201E;Ein Zu&#x017F;tand außer der<lb/>
gemeinen Individualität.&#x201C; Al&#x017F;o die Ge&#x017F;chichte mit der Per&#x017F;ön-<lb/>
lichkeit! Dies auf Phy&#x017F;ik angewandt, höch&#x017F;ter Witz&#x017F;chlag!<lb/>
Und Rück&#x017F;chlag des Witzes auf hie&#x017F;ige Moral. &#x2014;</p><lb/>
            <p>&#x201E;I&#x017F;t un&#x017F;re Unwi&#x017F;&#x017F;enheit etwa Bedingung un&#x017F;rer Morali-<lb/>
tät? Wollen wir unwi&#x017F;&#x017F;end &#x017F;ein, weil wir es, bewandten<lb/>
Um&#x017F;tänden nach, wollen mü&#x017F;&#x017F;en? Wir &#x017F;ind nur unwi&#x017F;&#x017F;end,<lb/>
weil wir es wollen.&#x201C; (S. 468.) Dies i&#x017F;t &#x017F;ehr &#x017F;chön zu ver-<lb/>
&#x017F;tehn! und gewiß fa&#x017F;t Allen zu kühn. Ich glaube, er denkt<lb/>
an freien Willen. Wir &#x017F;ollen annehmen mü&#x017F;&#x017F;en, daß wir ihn<lb/>
haben. Wir fühlen dies Gelenk, und können es gebrauchen.<lb/>
Denken wir aber an Weltordnung; an die Illu&#x017F;ion der Zeit;<lb/>
an Gottes Gei&#x017F;tigkeit, an aller Gei&#x017F;ter Göttlichkeit: &#x017F;o &#x017F;chwin-<lb/>
det uns die vermeinte Wahl. Illu&#x017F;ion aber, i&#x017F;t uns hier ganz<lb/>
hinlänglich; es i&#x017F;t Pflicht hier &#x2014; heißt, in ihr &#x2014; nach ihr zu<lb/>
handlen. Sie i&#x017F;t hier für uns veran&#x017F;taltet. So hoch, und<lb/>
&#x017F;o klein denk&#x2019; ich von un&#x017F;ern Pflichten. &#x2014;</p><lb/>
            <dateline> <hi rendition="#et">Montag, den 15. März 1824.</hi> </dateline>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <p>Wir haben eine Freiheit, die hier nicht anwendbar i&#x017F;t:<lb/>
daraus ent&#x017F;tehen die Täu&#x017F;chung und die Frage; Täu&#x017F;chung<lb/>
über Freiheit; Frage nach Freiheit. &#x2014;</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[149/0157] leben bezieht! — Es iſt barbariſch, leben zu wollen: — Fried- rich Schlegel ſagt: „Es iſt die größte Anmaßung, eine Perſon ſein zu wollen;“ — und auch darum ein Streit gegen alles andere; nicht leben wollen: gleich Friede! das Höchſte aus einem Standpunkt! in dem wir im Leben nie bleiben können. — S. 458. Herrlich über Gewiſſen! Im weiteſten Sinn. Mir meine Meinung ſehr beſtätigt: „Ein Zuſtand außer der gemeinen Individualität.“ Alſo die Geſchichte mit der Perſön- lichkeit! Dies auf Phyſik angewandt, höchſter Witzſchlag! Und Rückſchlag des Witzes auf hieſige Moral. — „Iſt unſre Unwiſſenheit etwa Bedingung unſrer Morali- tät? Wollen wir unwiſſend ſein, weil wir es, bewandten Umſtänden nach, wollen müſſen? Wir ſind nur unwiſſend, weil wir es wollen.“ (S. 468.) Dies iſt ſehr ſchön zu ver- ſtehn! und gewiß faſt Allen zu kühn. Ich glaube, er denkt an freien Willen. Wir ſollen annehmen müſſen, daß wir ihn haben. Wir fühlen dies Gelenk, und können es gebrauchen. Denken wir aber an Weltordnung; an die Illuſion der Zeit; an Gottes Geiſtigkeit, an aller Geiſter Göttlichkeit: ſo ſchwin- det uns die vermeinte Wahl. Illuſion aber, iſt uns hier ganz hinlänglich; es iſt Pflicht hier — heißt, in ihr — nach ihr zu handlen. Sie iſt hier für uns veranſtaltet. So hoch, und ſo klein denk’ ich von unſern Pflichten. — Montag, den 15. März 1824. Wir haben eine Freiheit, die hier nicht anwendbar iſt: daraus entſtehen die Täuſchung und die Frage; Täuſchung über Freiheit; Frage nach Freiheit. —

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/157
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/157>, abgerufen am 22.12.2024.