zel gesprochen. Nichts mehr von Deutschland! Sie werden alles besser wissen. -- Gott schütze Sie! Ihre treue
Fr. Varnhagen.
Millionen Grüße an Frau von Schlegel! Ihr kleiner Hof am Hause charmirt mich. Mit günstiger Stimmung ant- worte ich ihr. Addio! --
Berlin, den 3. November 1819.
Es wird eine Zeit kommen, wo Nationalstolz *) eben so angesehen werden wird, wie Eigenliebe und andere Eitelkeit; und Krieg wie Schlägerei. Der jetzige Zustand widerspricht unserer Religion. Um diesen Widerspruch nicht einzugestehen, werden die entsetzlichen, langweiligen Lügen gesagt, gedruckt und dramatisirt.
Geschichte ist in närrischen Händen sehr schädlich, und ein Grundirrthum über sie in Umlauf; man hört überall den höchsten fast bis zu den niedrigsten Ständen empfehlen, sie möchten die Geschichte fragen und die studiren. Wer ist denn vermögend, Geschichte zu schreiben oder zu lesen? Doch nur solche, die sie als Gegenwart verstehen! Nur diese vermögen das Vergangene zu beleben, und es sich gleichsam in Gegen- wärtiges zu übersetzen. Daher ist das Wort von Friedrich Schlegel: "Der Historiker ist ein rückwärtsgekehrter Prophet," so sehr richtig; darum Goethe ewig und stets von neuem so
*) Dieses ist an einem bedeutenden Orte, im großbritannischen Parla- mente, schon wahr geworden. Sitzung des Unterhauses vom 23. Fe- bruar 1830.
zel geſprochen. Nichts mehr von Deutſchland! Sie werden alles beſſer wiſſen. — Gott ſchütze Sie! Ihre treue
Fr. Varnhagen.
Millionen Grüße an Frau von Schlegel! Ihr kleiner Hof am Hauſe charmirt mich. Mit günſtiger Stimmung ant- worte ich ihr. Addio! —
Berlin, den 3. November 1819.
Es wird eine Zeit kommen, wo Nationalſtolz *) eben ſo angeſehen werden wird, wie Eigenliebe und andere Eitelkeit; und Krieg wie Schlägerei. Der jetzige Zuſtand widerſpricht unſerer Religion. Um dieſen Widerſpruch nicht einzugeſtehen, werden die entſetzlichen, langweiligen Lügen geſagt, gedruckt und dramatiſirt.
Geſchichte iſt in närriſchen Händen ſehr ſchädlich, und ein Grundirrthum über ſie in Umlauf; man hört überall den höchſten faſt bis zu den niedrigſten Ständen empfehlen, ſie möchten die Geſchichte fragen und die ſtudiren. Wer iſt denn vermögend, Geſchichte zu ſchreiben oder zu leſen? Doch nur ſolche, die ſie als Gegenwart verſtehen! Nur dieſe vermögen das Vergangene zu beleben, und es ſich gleichſam in Gegen- wärtiges zu überſetzen. Daher iſt das Wort von Friedrich Schlegel: „Der Hiſtoriker iſt ein rückwärtsgekehrter Prophet,“ ſo ſehr richtig; darum Goethe ewig und ſtets von neuem ſo
*) Dieſes iſt an einem bedeutenden Orte, im großbritanniſchen Parla- mente, ſchon wahr geworden. Sitzung des Unterhauſes vom 23. Fe- bruar 1830.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0607"n="599"/>
zel geſprochen. Nichts mehr von Deutſchland! Sie werden<lb/>
alles beſſer wiſſen. — Gott ſchütze Sie! Ihre treue</p><lb/><closer><salute><hirendition="#et">Fr. Varnhagen.</hi></salute></closer><lb/><postscript><p>Millionen Grüße an Frau von Schlegel! Ihr kleiner<lb/>
Hof am Hauſe charmirt mich. Mit günſtiger Stimmung ant-<lb/>
worte ich ihr. <hirendition="#aq">Addio</hi>! —</p></postscript></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Berlin, den 3. November 1819.</hi></dateline><lb/><p>Es wird eine Zeit kommen, wo Nationalſtolz <noteplace="foot"n="*)">Dieſes iſt an einem bedeutenden Orte, im großbritanniſchen Parla-<lb/>
mente, ſchon wahr geworden. Sitzung des Unterhauſes vom 23. Fe-<lb/>
bruar 1830.</note> eben ſo<lb/>
angeſehen werden wird, wie Eigenliebe und andere Eitelkeit;<lb/>
und Krieg wie Schlägerei. Der jetzige Zuſtand widerſpricht<lb/>
unſerer Religion. Um dieſen Widerſpruch nicht einzugeſtehen,<lb/>
werden die entſetzlichen, langweiligen Lügen geſagt, gedruckt<lb/>
und dramatiſirt.</p><lb/><p>Geſchichte iſt in närriſchen Händen ſehr ſchädlich, und<lb/>
ein Grundirrthum über ſie in Umlauf; man hört überall den<lb/>
höchſten faſt bis zu den niedrigſten Ständen empfehlen, ſie<lb/>
möchten die Geſchichte fragen und die ſtudiren. Wer iſt denn<lb/>
vermögend, Geſchichte zu ſchreiben oder zu leſen? Doch nur<lb/>ſolche, die ſie als Gegenwart verſtehen! Nur dieſe vermögen<lb/>
das Vergangene zu beleben, und es ſich gleichſam in Gegen-<lb/>
wärtiges zu überſetzen. Daher iſt das Wort von Friedrich<lb/>
Schlegel: „Der Hiſtoriker iſt ein rückwärtsgekehrter Prophet,“<lb/>ſo ſehr richtig; darum Goethe ewig und ſtets von neuem ſo<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[599/0607]
zel geſprochen. Nichts mehr von Deutſchland! Sie werden
alles beſſer wiſſen. — Gott ſchütze Sie! Ihre treue
Fr. Varnhagen.
Millionen Grüße an Frau von Schlegel! Ihr kleiner
Hof am Hauſe charmirt mich. Mit günſtiger Stimmung ant-
worte ich ihr. Addio! —
Berlin, den 3. November 1819.
Es wird eine Zeit kommen, wo Nationalſtolz *) eben ſo
angeſehen werden wird, wie Eigenliebe und andere Eitelkeit;
und Krieg wie Schlägerei. Der jetzige Zuſtand widerſpricht
unſerer Religion. Um dieſen Widerſpruch nicht einzugeſtehen,
werden die entſetzlichen, langweiligen Lügen geſagt, gedruckt
und dramatiſirt.
Geſchichte iſt in närriſchen Händen ſehr ſchädlich, und
ein Grundirrthum über ſie in Umlauf; man hört überall den
höchſten faſt bis zu den niedrigſten Ständen empfehlen, ſie
möchten die Geſchichte fragen und die ſtudiren. Wer iſt denn
vermögend, Geſchichte zu ſchreiben oder zu leſen? Doch nur
ſolche, die ſie als Gegenwart verſtehen! Nur dieſe vermögen
das Vergangene zu beleben, und es ſich gleichſam in Gegen-
wärtiges zu überſetzen. Daher iſt das Wort von Friedrich
Schlegel: „Der Hiſtoriker iſt ein rückwärtsgekehrter Prophet,“
ſo ſehr richtig; darum Goethe ewig und ſtets von neuem ſo
*) Dieſes iſt an einem bedeutenden Orte, im großbritanniſchen Parla-
mente, ſchon wahr geworden. Sitzung des Unterhauſes vom 23. Fe-
bruar 1830.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 599. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/607>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.