Donnerstag reist Minna; welch Schicksal hat die! Ich er- warte sie, sie will sich bei mir ausruhen, und etwas essen. Adieu! Wir werden noch Freude haben, wenn nicht großes Unglück kommt. --
Sommer 1812.
Jung-Stillings Leben hat mich durchaus an Retif's de la Bretonne Leben erinnert. Beide sind geistvoll genug, um daß ihnen ihre eigene Wollust ein nothwendig zu lösendes Problem ward. Auf Retif's Seele waren die überstarken Sinne, und eine solche saftvolle Gesundheit wie Saiten aufge- zogen; und durch dieser Schwingungen Getön vermochte sein Geist erst Rechenschaft zu fordern, und abzulegen; woran ihn eine große Gabe sittlicher Anlagen mahnte: darum sprechen wir von ihm, und darum mußte er schreiben. Die Wollüstig- keit Stillings ist schwächlicherer Art; und vergeht -- wie man verlaufen sagt -- sich mehr, weil sie in ein einfach reiner Ge- biet übergreift, wo sie gar nicht anzutreffen sein soll. Er thut sich gut mit Religion, und ist mit Wollust fromm. Er hat aber den Vorzug vor Retif, daß in dem Gebiete der Forschun- gen über dieses Lebens und unseres Geistes Gränzen er mit Einfällen begabt ist; die er zu durchdenken wohl vermag. Das ist seine gehaltvolle, denkende, anreizende Seite; auch bleibt er auf dieser ehrlich, welches die größre Hälfte seines Lebens verdient sehr anziehend zu machen, wie sie es auch thut. Mehr zu Ende hat er zu viel Wohlgefallen und Gewohnheit genom- men an der Mittheilung der wichtigsten und heiligsten seiner innren Begegnisse; er denkt nur an Mittheilen, an die Wir-
kung
Donnerstag reiſt Minna; welch Schickſal hat die! Ich er- warte ſie, ſie will ſich bei mir ausruhen, und etwas eſſen. Adieu! Wir werden noch Freude haben, wenn nicht großes Unglück kommt. —
Sommer 1812.
Jung-Stillings Leben hat mich durchaus an Retif’s de la Bretonne Leben erinnert. Beide ſind geiſtvoll genug, um daß ihnen ihre eigene Wolluſt ein nothwendig zu löſendes Problem ward. Auf Retif’s Seele waren die überſtarken Sinne, und eine ſolche ſaftvolle Geſundheit wie Saiten aufge- zogen; und durch dieſer Schwingungen Getön vermochte ſein Geiſt erſt Rechenſchaft zu fordern, und abzulegen; woran ihn eine große Gabe ſittlicher Anlagen mahnte: darum ſprechen wir von ihm, und darum mußte er ſchreiben. Die Wollüſtig- keit Stillings iſt ſchwächlicherer Art; und vergeht — wie man verlaufen ſagt — ſich mehr, weil ſie in ein einfach reiner Ge- biet übergreift, wo ſie gar nicht anzutreffen ſein ſoll. Er thut ſich gut mit Religion, und iſt mit Wolluſt fromm. Er hat aber den Vorzug vor Retif, daß in dem Gebiete der Forſchun- gen über dieſes Lebens und unſeres Geiſtes Gränzen er mit Einfällen begabt iſt; die er zu durchdenken wohl vermag. Das iſt ſeine gehaltvolle, denkende, anreizende Seite; auch bleibt er auf dieſer ehrlich, welches die größre Hälfte ſeines Lebens verdient ſehr anziehend zu machen, wie ſie es auch thut. Mehr zu Ende hat er zu viel Wohlgefallen und Gewohnheit genom- men an der Mittheilung der wichtigſten und heiligſten ſeiner innren Begegniſſe; er denkt nur an Mittheilen, an die Wir-
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Donnerstag reiſt Minna; welch Schickſal hat die! Ich er-
warte ſie, ſie will ſich bei mir ausruhen, und etwas eſſen.
Adieu! Wir werden noch Freude haben, wenn nicht großes
Unglück kommt. —
Sommer 1812.
Jung-Stillings Leben hat mich durchaus an Retif’s de
la Bretonne Leben erinnert. Beide ſind geiſtvoll genug, um
daß ihnen ihre eigene Wolluſt ein nothwendig zu löſendes
Problem ward. Auf Retif’s Seele waren die überſtarken
Sinne, und eine ſolche ſaftvolle Geſundheit wie Saiten aufge-
zogen; und durch dieſer Schwingungen Getön vermochte ſein
Geiſt erſt Rechenſchaft zu fordern, und abzulegen; woran ihn
eine große Gabe ſittlicher Anlagen mahnte: darum ſprechen
wir von ihm, und darum mußte er ſchreiben. Die Wollüſtig-
keit Stillings iſt ſchwächlicherer Art; und vergeht — wie man
verlaufen ſagt — ſich mehr, weil ſie in ein einfach reiner Ge-
biet übergreift, wo ſie gar nicht anzutreffen ſein ſoll. Er thut
ſich gut mit Religion, und iſt mit Wolluſt fromm. Er hat
aber den Vorzug vor Retif, daß in dem Gebiete der Forſchun-
gen über dieſes Lebens und unſeres Geiſtes Gränzen er mit
Einfällen begabt iſt; die er zu durchdenken wohl vermag. Das
iſt ſeine gehaltvolle, denkende, anreizende Seite; auch bleibt
er auf dieſer ehrlich, welches die größre Hälfte ſeines Lebens
verdient ſehr anziehend zu machen, wie ſie es auch thut. Mehr
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/56>, abgerufen am 21.11.2024.
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