Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

Donnerstag reist Minna; welch Schicksal hat die! Ich er-
warte sie, sie will sich bei mir ausruhen, und etwas essen.
Adieu! Wir werden noch Freude haben, wenn nicht großes
Unglück kommt. --




Jung-Stillings Leben hat mich durchaus an Retif's de
la Bretonne Leben erinnert. Beide sind geistvoll genug, um
daß ihnen ihre eigene Wollust ein nothwendig zu lösendes
Problem ward. Auf Retif's Seele waren die überstarken
Sinne, und eine solche saftvolle Gesundheit wie Saiten aufge-
zogen; und durch dieser Schwingungen Getön vermochte sein
Geist erst Rechenschaft zu fordern, und abzulegen; woran ihn
eine große Gabe sittlicher Anlagen mahnte: darum sprechen
wir von ihm, und darum mußte er schreiben. Die Wollüstig-
keit Stillings ist schwächlicherer Art; und vergeht -- wie man
verlaufen sagt -- sich mehr, weil sie in ein einfach reiner Ge-
biet übergreift, wo sie gar nicht anzutreffen sein soll. Er thut
sich gut mit Religion, und ist mit Wollust fromm. Er hat
aber den Vorzug vor Retif, daß in dem Gebiete der Forschun-
gen über dieses Lebens und unseres Geistes Gränzen er mit
Einfällen begabt ist; die er zu durchdenken wohl vermag. Das
ist seine gehaltvolle, denkende, anreizende Seite; auch bleibt
er auf dieser ehrlich, welches die größre Hälfte seines Lebens
verdient sehr anziehend zu machen, wie sie es auch thut. Mehr
zu Ende hat er zu viel Wohlgefallen und Gewohnheit genom-
men an der Mittheilung der wichtigsten und heiligsten seiner
innren Begegnisse; er denkt nur an Mittheilen, an die Wir-

kung

Donnerstag reiſt Minna; welch Schickſal hat die! Ich er-
warte ſie, ſie will ſich bei mir ausruhen, und etwas eſſen.
Adieu! Wir werden noch Freude haben, wenn nicht großes
Unglück kommt. —




Jung-Stillings Leben hat mich durchaus an Retif’s de
la Bretonne Leben erinnert. Beide ſind geiſtvoll genug, um
daß ihnen ihre eigene Wolluſt ein nothwendig zu löſendes
Problem ward. Auf Retif’s Seele waren die überſtarken
Sinne, und eine ſolche ſaftvolle Geſundheit wie Saiten aufge-
zogen; und durch dieſer Schwingungen Getön vermochte ſein
Geiſt erſt Rechenſchaft zu fordern, und abzulegen; woran ihn
eine große Gabe ſittlicher Anlagen mahnte: darum ſprechen
wir von ihm, und darum mußte er ſchreiben. Die Wollüſtig-
keit Stillings iſt ſchwächlicherer Art; und vergeht — wie man
verlaufen ſagt — ſich mehr, weil ſie in ein einfach reiner Ge-
biet übergreift, wo ſie gar nicht anzutreffen ſein ſoll. Er thut
ſich gut mit Religion, und iſt mit Wolluſt fromm. Er hat
aber den Vorzug vor Retif, daß in dem Gebiete der Forſchun-
gen über dieſes Lebens und unſeres Geiſtes Gränzen er mit
Einfällen begabt iſt; die er zu durchdenken wohl vermag. Das
iſt ſeine gehaltvolle, denkende, anreizende Seite; auch bleibt
er auf dieſer ehrlich, welches die größre Hälfte ſeines Lebens
verdient ſehr anziehend zu machen, wie ſie es auch thut. Mehr
zu Ende hat er zu viel Wohlgefallen und Gewohnheit genom-
men an der Mittheilung der wichtigſten und heiligſten ſeiner
innren Begegniſſe; er denkt nur an Mittheilen, an die Wir-

kung
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0056" n="48"/>
Donnerstag rei&#x017F;t Minna; welch Schick&#x017F;al hat <hi rendition="#g">die</hi>! Ich er-<lb/>
warte &#x017F;ie, &#x017F;ie will &#x017F;ich bei mir ausruhen, und etwas e&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Adieu! Wir werden noch Freude haben, wenn nicht großes<lb/>
Unglück kommt. &#x2014;</p>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Sommer 1812.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Jung-Stillings Leben hat mich durchaus an Retif&#x2019;s de<lb/>
la Bretonne Leben erinnert. Beide &#x017F;ind gei&#x017F;tvoll genug, um<lb/>
daß ihnen ihre eigene Wollu&#x017F;t ein nothwendig zu lö&#x017F;endes<lb/>
Problem ward. Auf Retif&#x2019;s Seele waren die über&#x017F;tarken<lb/>
Sinne, und eine &#x017F;olche &#x017F;aftvolle Ge&#x017F;undheit wie Saiten aufge-<lb/>
zogen; und durch die&#x017F;er Schwingungen Getön vermochte &#x017F;ein<lb/>
Gei&#x017F;t er&#x017F;t Rechen&#x017F;chaft zu fordern, und abzulegen; woran ihn<lb/>
eine große Gabe &#x017F;ittlicher Anlagen mahnte: darum &#x017F;prechen<lb/>
wir von ihm, und darum mußte er &#x017F;chreiben. Die Wollü&#x017F;tig-<lb/>
keit Stillings i&#x017F;t &#x017F;chwächlicherer Art; und vergeht &#x2014; wie man<lb/>
verlaufen &#x017F;agt &#x2014; &#x017F;ich mehr, weil &#x017F;ie in ein einfach reiner Ge-<lb/>
biet übergreift, wo &#x017F;ie gar nicht anzutreffen &#x017F;ein &#x017F;oll. Er thut<lb/>
&#x017F;ich gut mit Religion, und i&#x017F;t mit Wollu&#x017F;t fromm. Er hat<lb/>
aber den Vorzug vor Retif, daß in dem Gebiete der For&#x017F;chun-<lb/>
gen über die&#x017F;es Lebens und un&#x017F;eres Gei&#x017F;tes Gränzen er mit<lb/>
Einfällen begabt i&#x017F;t; die er zu durchdenken wohl vermag. Das<lb/>
i&#x017F;t &#x017F;eine gehaltvolle, denkende, anreizende Seite; auch bleibt<lb/>
er auf die&#x017F;er ehrlich, welches die größre Hälfte &#x017F;eines Lebens<lb/>
verdient &#x017F;ehr anziehend zu machen, wie &#x017F;ie es auch thut. Mehr<lb/>
zu Ende hat er zu viel Wohlgefallen und Gewohnheit genom-<lb/>
men an der Mittheilung der wichtig&#x017F;ten und heilig&#x017F;ten &#x017F;einer<lb/>
innren Begegni&#x017F;&#x017F;e; er denkt nur an Mittheilen, an die Wir-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">kung</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[48/0056] Donnerstag reiſt Minna; welch Schickſal hat die! Ich er- warte ſie, ſie will ſich bei mir ausruhen, und etwas eſſen. Adieu! Wir werden noch Freude haben, wenn nicht großes Unglück kommt. — Sommer 1812. Jung-Stillings Leben hat mich durchaus an Retif’s de la Bretonne Leben erinnert. Beide ſind geiſtvoll genug, um daß ihnen ihre eigene Wolluſt ein nothwendig zu löſendes Problem ward. Auf Retif’s Seele waren die überſtarken Sinne, und eine ſolche ſaftvolle Geſundheit wie Saiten aufge- zogen; und durch dieſer Schwingungen Getön vermochte ſein Geiſt erſt Rechenſchaft zu fordern, und abzulegen; woran ihn eine große Gabe ſittlicher Anlagen mahnte: darum ſprechen wir von ihm, und darum mußte er ſchreiben. Die Wollüſtig- keit Stillings iſt ſchwächlicherer Art; und vergeht — wie man verlaufen ſagt — ſich mehr, weil ſie in ein einfach reiner Ge- biet übergreift, wo ſie gar nicht anzutreffen ſein ſoll. Er thut ſich gut mit Religion, und iſt mit Wolluſt fromm. Er hat aber den Vorzug vor Retif, daß in dem Gebiete der Forſchun- gen über dieſes Lebens und unſeres Geiſtes Gränzen er mit Einfällen begabt iſt; die er zu durchdenken wohl vermag. Das iſt ſeine gehaltvolle, denkende, anreizende Seite; auch bleibt er auf dieſer ehrlich, welches die größre Hälfte ſeines Lebens verdient ſehr anziehend zu machen, wie ſie es auch thut. Mehr zu Ende hat er zu viel Wohlgefallen und Gewohnheit genom- men an der Mittheilung der wichtigſten und heiligſten ſeiner innren Begegniſſe; er denkt nur an Mittheilen, an die Wir- kung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/56
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/56>, abgerufen am 21.11.2024.