Also bis heute lag dieses Ungeheuer von Brief still -- ich hab' ihn eben gelesen, und habe einen Abscheu vor ihm: aber abgehen soll er doch: denn in acht Tagen hätte ich ge- wiß vor einem heute neugeschriebenen denselben Gräuel. Ein anderer Mensch kann mir mit seinen Äußerungen nicht frem- der sein, als mir meine eigenen Stimmungen, wenn sie ein- mal vorbei sind. Verstehen thu' ich aber den Andern und mich sehr gut. Ich ekle mich auch hauptsächlich nur vor mei- nem rohen, und noch mehr ungewandten, ungeschlachten Aus- druck, ich -- die ich so viel Geschmack habe! aber gar kein Geschick; -- und lebte weiter, ohne Pflege, als ob er das schönste Manuskript wäre. -- Machen Sie ja fleißig Musik, Liebste, sonst verlieren Sie Ihr schönes Talent, den großen Lebensschmuck! -- wie ich meines!!! Sie schreiben mir von Musik. Ich habe Ihren Brief vor mir. -- Moritz, ärgere Ernestine nicht so! das sag' ich dir, es wird dir leid thun! das hilft gar nicht, daß du sie doch lieb hast, und ihr ein andermal schmeichelst. Sie muß ganz ihre Freiheit haben. Thun was sie für gut findet. Du schreist sie nicht an, wenn Luise sie einladet, du giebst auf solche Einladungen nicht Antwort, sondern sie ganz allein. Vergiß nicht, daß man gar keine Sache und keinen Zustand findet, an welchem nichts auszusetzen wäre, daß man unaufhörlich alles und die An- dern nur erträgt: und du auch nur so ertragen par com- pensation bist. Wenn sie allein zu Hause bleibt, ist es dir auch nicht recht: das kenn ich alles! genug wenn sie dich nicht geniren will, nicht Herr deiner Zeit sein will. Mache
Donnerstag, den 8. Januar 1818. Regenwetter.
Alſo bis heute lag dieſes Ungeheuer von Brief ſtill — ich hab’ ihn eben geleſen, und habe einen Abſcheu vor ihm: aber abgehen ſoll er doch: denn in acht Tagen hätte ich ge- wiß vor einem heute neugeſchriebenen denſelben Gräuel. Ein anderer Menſch kann mir mit ſeinen Äußerungen nicht frem- der ſein, als mir meine eigenen Stimmungen, wenn ſie ein- mal vorbei ſind. Verſtehen thu’ ich aber den Andern und mich ſehr gut. Ich ekle mich auch hauptſächlich nur vor mei- nem rohen, und noch mehr ungewandten, ungeſchlachten Aus- druck, ich — die ich ſo viel Geſchmack habe! aber gar kein Geſchick; — und lebte weiter, ohne Pflege, als ob er das ſchönſte Manuſkript wäre. — Machen Sie ja fleißig Muſik, Liebſte, ſonſt verlieren Sie Ihr ſchönes Talent, den großen Lebensſchmuck! — wie ich meines!!! Sie ſchreiben mir von Muſik. Ich habe Ihren Brief vor mir. — Moritz, ärgere Erneſtine nicht ſo! das ſag’ ich dir, es wird dir leid thun! das hilft gar nicht, daß du ſie doch lieb haſt, und ihr ein andermal ſchmeichelſt. Sie muß ganz ihre Freiheit haben. Thun was ſie für gut findet. Du ſchreiſt ſie nicht an, wenn Luiſe ſie einladet, du giebſt auf ſolche Einladungen nicht Antwort, ſondern ſie ganz allein. Vergiß nicht, daß man gar keine Sache und keinen Zuſtand findet, an welchem nichts auszuſetzen wäre, daß man unaufhörlich alles und die An- dern nur erträgt: und du auch nur ſo ertragen par com- pensation biſt. Wenn ſie allein zu Hauſe bleibt, iſt es dir auch nicht recht: das kenn ich alles! genug wenn ſie dich nicht geniren will, nicht Herr deiner Zeit ſein will. Mache
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0526"n="518"/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Donnerstag, den 8. Januar 1818. Regenwetter.</hi></dateline><lb/><p>Alſo bis heute lag dieſes Ungeheuer von Brief ſtill —<lb/>
ich hab’ ihn eben geleſen, und habe einen Abſcheu vor ihm:<lb/>
aber abgehen ſoll er doch: denn in acht Tagen hätte ich ge-<lb/>
wiß vor einem heute neugeſchriebenen denſelben Gräuel. Ein<lb/>
anderer Menſch kann mir mit ſeinen Äußerungen nicht frem-<lb/>
der ſein, als mir meine eigenen Stimmungen, wenn ſie ein-<lb/>
mal vorbei ſind. Verſtehen thu’ ich aber den Andern und<lb/>
mich ſehr gut. Ich ekle mich auch hauptſächlich nur vor mei-<lb/>
nem rohen, und noch mehr ungewandten, ungeſchlachten Aus-<lb/>
druck, ich — die ich ſo viel Geſchmack habe! aber gar kein<lb/>
Geſchick; — und lebte weiter, ohne Pflege, als ob er das<lb/>ſchönſte Manuſkript wäre. — Machen Sie ja fleißig Muſik,<lb/>
Liebſte, ſonſt verlieren Sie Ihr ſchönes Talent, den großen<lb/>
Lebensſchmuck! — wie ich meines!!! Sie ſchreiben mir von<lb/>
Muſik. Ich habe Ihren Brief vor mir. — Moritz, ärgere<lb/>
Erneſtine nicht ſo! das ſag’ ich dir, es wird dir leid thun!<lb/>
das hilft gar nicht, daß du ſie doch lieb haſt, und ihr ein<lb/>
andermal ſchmeichelſt. Sie muß ganz ihre Freiheit haben.<lb/>
Thun was <hirendition="#g">ſie</hi> für gut findet. Du ſchreiſt ſie nicht an, wenn<lb/>
Luiſe ſie einladet, du giebſt auf ſolche Einladungen nicht<lb/>
Antwort, ſondern <hirendition="#g">ſie ganz allein</hi>. Vergiß nicht, daß man<lb/>
gar keine Sache und keinen Zuſtand findet, an welchem nichts<lb/>
auszuſetzen wäre, daß man unaufhörlich <hirendition="#g">alles</hi> und die An-<lb/>
dern nur <hirendition="#g">erträgt:</hi> und du auch nur ſo ertragen <hirendition="#aq">par com-<lb/>
pensation</hi> biſt. Wenn ſie allein zu Hauſe bleibt, iſt es dir<lb/>
auch nicht recht: das kenn ich alles! genug wenn ſie dich<lb/>
nicht geniren <hirendition="#g">will</hi>, nicht Herr <hirendition="#g">deiner</hi> Zeit ſein will. Mache<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[518/0526]
Donnerstag, den 8. Januar 1818. Regenwetter.
Alſo bis heute lag dieſes Ungeheuer von Brief ſtill —
ich hab’ ihn eben geleſen, und habe einen Abſcheu vor ihm:
aber abgehen ſoll er doch: denn in acht Tagen hätte ich ge-
wiß vor einem heute neugeſchriebenen denſelben Gräuel. Ein
anderer Menſch kann mir mit ſeinen Äußerungen nicht frem-
der ſein, als mir meine eigenen Stimmungen, wenn ſie ein-
mal vorbei ſind. Verſtehen thu’ ich aber den Andern und
mich ſehr gut. Ich ekle mich auch hauptſächlich nur vor mei-
nem rohen, und noch mehr ungewandten, ungeſchlachten Aus-
druck, ich — die ich ſo viel Geſchmack habe! aber gar kein
Geſchick; — und lebte weiter, ohne Pflege, als ob er das
ſchönſte Manuſkript wäre. — Machen Sie ja fleißig Muſik,
Liebſte, ſonſt verlieren Sie Ihr ſchönes Talent, den großen
Lebensſchmuck! — wie ich meines!!! Sie ſchreiben mir von
Muſik. Ich habe Ihren Brief vor mir. — Moritz, ärgere
Erneſtine nicht ſo! das ſag’ ich dir, es wird dir leid thun!
das hilft gar nicht, daß du ſie doch lieb haſt, und ihr ein
andermal ſchmeichelſt. Sie muß ganz ihre Freiheit haben.
Thun was ſie für gut findet. Du ſchreiſt ſie nicht an, wenn
Luiſe ſie einladet, du giebſt auf ſolche Einladungen nicht
Antwort, ſondern ſie ganz allein. Vergiß nicht, daß man
gar keine Sache und keinen Zuſtand findet, an welchem nichts
auszuſetzen wäre, daß man unaufhörlich alles und die An-
dern nur erträgt: und du auch nur ſo ertragen par com-
pensation biſt. Wenn ſie allein zu Hauſe bleibt, iſt es dir
auch nicht recht: das kenn ich alles! genug wenn ſie dich
nicht geniren will, nicht Herr deiner Zeit ſein will. Mache
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 518. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/526>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.