"So verdirbt man die Bedienten!" sagte man zu Rahel, als sie etwas zugestand, was menschlich gut, aber dem stren- gen Respekt nicht ganz förderlich war. Sie entgegnete la- chend: "Ich denke doch eigennützig: besser ich verderbe ihn, als mich!"
Mannheim, 1817.
An Ernestine G., in Berlin.
Karlsruhe, Dienstag den 29. April 1817.
Man nennt es Süddeutschland: rauhes, kaltes -- hier kälter, als in Mannheim -- windiges, trübes Wetter: oft auch Hagel und Schnee; kalter blendender Sonnenschein; nichts grüner, als den 6. Februar, als das Grün mit Ge- walt etwas heraus kam. Die Erde war im Winter, vom Herbst her, grüner. Dabei Hungersnoth vor der Thür: Theu- rung, die jeden genirt; solche Noth, daß man gar nichts anders hört, und es ein jeder hört; man es von einem jeden hört; im Oberland, einige Meilen von hier, ißt man Brot aus Baumrinde, und gräbt todte Pferde aus; das Vieh stirbt den Bauern aus Mangel an Gras und Futter. Man sieht allen Gräueln entgegen. Kennen Sie meine Furchtsamkeit?! -- dabei möchte mir vor Mitleidsjammer das Herz springen. Wenn ich esse, krieg' ich einen Schreck; daß ich es bin, die ißt, die doch erst vor ein paar Stunden aß!!! -- Das ist Eins; das Allgemeine; welches aber in alle Lebensfalten dringt: und einem wahrhaft auch Sorge aufbürdet. Nun hören Sie meins! -- -- --.
„So verdirbt man die Bedienten!“ ſagte man zu Rahel, als ſie etwas zugeſtand, was menſchlich gut, aber dem ſtren- gen Reſpekt nicht ganz förderlich war. Sie entgegnete la- chend: „Ich denke doch eigennützig: beſſer ich verderbe ihn, als mich!“
Mannheim, 1817.
An Erneſtine G., in Berlin.
Karlsruhe, Dienstag den 29. April 1817.
Man nennt es Süddeutſchland: rauhes, kaltes — hier kälter, als in Mannheim — windiges, trübes Wetter: oft auch Hagel und Schnee; kalter blendender Sonnenſchein; nichts grüner, als den 6. Februar, als das Grün mit Ge- walt etwas heraus kam. Die Erde war im Winter, vom Herbſt her, grüner. Dabei Hungersnoth vor der Thür: Theu- rung, die jeden genirt; ſolche Noth, daß man gar nichts anders hört, und es ein jeder hört; man es von einem jeden hört; im Oberland, einige Meilen von hier, ißt man Brot aus Baumrinde, und gräbt todte Pferde aus; das Vieh ſtirbt den Bauern aus Mangel an Gras und Futter. Man ſieht allen Gräueln entgegen. Kennen Sie meine Furchtſamkeit?! — dabei möchte mir vor Mitleidsjammer das Herz ſpringen. Wenn ich eſſe, krieg’ ich einen Schreck; daß ich es bin, die ißt, die doch erſt vor ein paar Stunden aß!!! — Das iſt Eins; das Allgemeine; welches aber in alle Lebensfalten dringt: und einem wahrhaft auch Sorge aufbürdet. Nun hören Sie meins! — — —.
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„So verdirbt man die Bedienten!“ ſagte man zu Rahel,
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gen Reſpekt nicht ganz förderlich war. Sie entgegnete la-
chend: „Ich denke doch eigennützig: beſſer ich verderbe ihn,
als mich!“
Mannheim, 1817.
An Erneſtine G., in Berlin.
Karlsruhe, Dienstag den 29. April 1817.
Man nennt es Süddeutſchland: rauhes, kaltes — hier
kälter, als in Mannheim — windiges, trübes Wetter: oft
auch Hagel und Schnee; kalter blendender Sonnenſchein;
nichts grüner, als den 6. Februar, als das Grün mit Ge-
walt etwas heraus kam. Die Erde war im Winter, vom
Herbſt her, grüner. Dabei Hungersnoth vor der Thür: Theu-
rung, die jeden genirt; ſolche Noth, daß man gar nichts
anders hört, und es ein jeder hört; man es von einem jeden
hört; im Oberland, einige Meilen von hier, ißt man Brot
aus Baumrinde, und gräbt todte Pferde aus; das Vieh ſtirbt
den Bauern aus Mangel an Gras und Futter. Man ſieht
allen Gräueln entgegen. Kennen Sie meine Furchtſamkeit?!
— dabei möchte mir vor Mitleidsjammer das Herz ſpringen.
Wenn ich eſſe, krieg’ ich einen Schreck; daß ich es bin, die
ißt, die doch erſt vor ein paar Stunden aß!!! — Das iſt
Eins; das Allgemeine; welches aber in alle Lebensfalten
dringt: und einem wahrhaft auch Sorge aufbürdet. Nun
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 455. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/463>, abgerufen am 21.11.2024.
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