Muth, der ihnen die ganze Bewegung und Richtung giebt. Ich habe viele Gaben; aber keinen Muth: nicht den Muth, der meine Gaben zu bewegen vermag, nicht den Muth, der mich genießen lehrte, wenn es auch einen Andern etwas ko- stete: ich setzte jenes Andern Persönlichkeit höher, als meine; ziehe Frieden dem Genusse vor: und habe nie etwas gehabt. Solche Menschen liebt nur selten das Glück. Und so bin ich großbegabt sitzen geblieben. Ganz fallen konnt' ich nicht, weil ich unendlich unschuldig bin: und unpersönliche Genüsse mei- nen reichen Gaben nach in Fülle habe. Dies ist le mot de l'enigme. Sie werden es verstehen. Sie sind auf entgegenge- setztem Wege, mit dem größten Muthe, bankerott. Und so winken wir uns, blicken uns tief in die Augen, und wollen uns die Hand reichen. Liebe Freundin! das Herz wird ganz steif vor Wunder, wenn man dies erkennt. --
An Ernestine G., in Berlin.
Frankfurt a. M., Montag den 1. Juli 1816. 11 Uhr Morgens.
Nur weil ich Ihre Gesinnung dabei kenne, Ihre Empfin- dung mir dabei denken kann, hat auch mich das Geburtstag- band, welches ich gestern dick in einem Briefe von Ihnen er- hielt, gefreut, Ich danke Ihnen! Ich sah das Band schon öfter vergnügt an, habe es schon mehreremale auseinander gewickelt, mir dabei gedacht, was Sie sich wohl dabei dach- ten; und fand es recht hübsch! Auf meine Geburtstage halte ich nicht viel; in unserm Hause durste von keinem die Rede
Muth, der ihnen die ganze Bewegung und Richtung giebt. Ich habe viele Gaben; aber keinen Muth: nicht den Muth, der meine Gaben zu bewegen vermag, nicht den Muth, der mich genießen lehrte, wenn es auch einen Andern etwas ko- ſtete: ich ſetzte jenes Andern Perſönlichkeit höher, als meine; ziehe Frieden dem Genuſſe vor: und habe nie etwas gehabt. Solche Menſchen liebt nur ſelten das Glück. Und ſo bin ich großbegabt ſitzen geblieben. Ganz fallen konnt’ ich nicht, weil ich unendlich unſchuldig bin: und unperſönliche Genüſſe mei- nen reichen Gaben nach in Fülle habe. Dies iſt le mot de l’énigme. Sie werden es verſtehen. Sie ſind auf entgegenge- ſetztem Wege, mit dem größten Muthe, bankerott. Und ſo winken wir uns, blicken uns tief in die Augen, und wollen uns die Hand reichen. Liebe Freundin! das Herz wird ganz ſteif vor Wunder, wenn man dies erkennt. —
An Erneſtine G., in Berlin.
Frankfurt a. M., Montag den 1. Juli 1816. 11 Uhr Morgens.
Nur weil ich Ihre Geſinnung dabei kenne, Ihre Empfin- dung mir dabei denken kann, hat auch mich das Geburtstag- band, welches ich geſtern dick in einem Briefe von Ihnen er- hielt, gefreut, Ich danke Ihnen! Ich ſah das Band ſchon öfter vergnügt an, habe es ſchon mehreremale auseinander gewickelt, mir dabei gedacht, was Sie ſich wohl dabei dach- ten; und fand es recht hübſch! Auf meine Geburtstage halte ich nicht viel; in unſerm Hauſe durſte von keinem die Rede
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0416"n="408"/>
Muth, der ihnen die ganze Bewegung und Richtung giebt.<lb/>
Ich habe viele Gaben; aber keinen Muth: nicht den Muth,<lb/>
der <hirendition="#g">meine</hi> Gaben zu bewegen vermag, nicht den Muth, der<lb/>
mich genießen lehrte, wenn es auch einen Andern etwas ko-<lb/>ſtete: ich ſetzte jenes Andern Perſönlichkeit höher, als meine;<lb/>
ziehe Frieden dem Genuſſe vor: und habe nie etwas gehabt.<lb/>
Solche Menſchen liebt nur ſelten das Glück. Und ſo bin ich<lb/>
großbegabt ſitzen geblieben. Ganz fallen konnt’ ich nicht, weil<lb/>
ich unendlich unſchuldig bin: und unperſönliche Genüſſe mei-<lb/>
nen reichen Gaben nach in Fülle habe. Dies iſt <hirendition="#aq">le mot de<lb/>
l’énigme.</hi> Sie werden es verſtehen. Sie ſind auf entgegenge-<lb/>ſetztem Wege, mit dem größten Muthe, bankerott. Und ſo<lb/>
winken wir uns, blicken uns tief in die Augen, und wollen<lb/>
uns die Hand reichen. <hirendition="#g">Liebe</hi> Freundin! das Herz wird ganz<lb/>ſteif vor Wunder, wenn man dies erkennt. —</p></div></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="2"><head>An Erneſtine G., in Berlin.</head><lb/><dateline><hirendition="#et">Frankfurt a. M., Montag den 1. Juli 1816.<lb/>
11 Uhr Morgens.</hi></dateline><lb/><p>Nur weil ich Ihre Geſinnung dabei kenne, Ihre Empfin-<lb/>
dung mir dabei denken kann, hat auch mich das Geburtstag-<lb/>
band, welches ich geſtern dick in einem Briefe von Ihnen er-<lb/>
hielt, gefreut, Ich danke Ihnen! Ich ſah das Band ſchon<lb/>
öfter vergnügt an, habe es ſchon mehreremale auseinander<lb/>
gewickelt, mir dabei gedacht, was Sie ſich wohl dabei dach-<lb/>
ten; und fand es recht hübſch! Auf meine Geburtstage halte<lb/>
ich nicht viel; in unſerm Hauſe durſte von keinem die Rede<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[408/0416]
Muth, der ihnen die ganze Bewegung und Richtung giebt.
Ich habe viele Gaben; aber keinen Muth: nicht den Muth,
der meine Gaben zu bewegen vermag, nicht den Muth, der
mich genießen lehrte, wenn es auch einen Andern etwas ko-
ſtete: ich ſetzte jenes Andern Perſönlichkeit höher, als meine;
ziehe Frieden dem Genuſſe vor: und habe nie etwas gehabt.
Solche Menſchen liebt nur ſelten das Glück. Und ſo bin ich
großbegabt ſitzen geblieben. Ganz fallen konnt’ ich nicht, weil
ich unendlich unſchuldig bin: und unperſönliche Genüſſe mei-
nen reichen Gaben nach in Fülle habe. Dies iſt le mot de
l’énigme. Sie werden es verſtehen. Sie ſind auf entgegenge-
ſetztem Wege, mit dem größten Muthe, bankerott. Und ſo
winken wir uns, blicken uns tief in die Augen, und wollen
uns die Hand reichen. Liebe Freundin! das Herz wird ganz
ſteif vor Wunder, wenn man dies erkennt. —
An Erneſtine G., in Berlin.
Frankfurt a. M., Montag den 1. Juli 1816.
11 Uhr Morgens.
Nur weil ich Ihre Geſinnung dabei kenne, Ihre Empfin-
dung mir dabei denken kann, hat auch mich das Geburtstag-
band, welches ich geſtern dick in einem Briefe von Ihnen er-
hielt, gefreut, Ich danke Ihnen! Ich ſah das Band ſchon
öfter vergnügt an, habe es ſchon mehreremale auseinander
gewickelt, mir dabei gedacht, was Sie ſich wohl dabei dach-
ten; und fand es recht hübſch! Auf meine Geburtstage halte
ich nicht viel; in unſerm Hauſe durſte von keinem die Rede
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/416>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.