des Sommers noch sehen. Daran könnt ihr am besten mei- nen Muth, das heißt, mein Hoffen sehen. Adieu, adieu!
Rahel.
An M. Th. Robert, in Berlin.
Wien, Sonntags Abend 10 Uhr, den 2. April 1815.
(Schon ganz ermüdet von Warten, Besuchen, Geschrei, und Varnhagens Balgen mit meinem Kinde hier aus dem Hause. Seit 7 wenigstens will ich schon schreiben, ohne dazu kommen zu können. Graf Löwenhjelm war unter andern auch hier. Nun fängt der Brief erst an.) Gestern endlich erhielt ich ei- nen Brief von Rose, vom 20. März. Einen lieben Brief: der sie mir ganz aus der Seelen Winkel hervorrief, und die ganze Sehnsucht, die man nur nach jüngern Geschwistern fühlt, denen man zur Hälfte Mutter war, und die man in der Jugend, also halb verloren hat, weckte! Wo erhielt ich diesen Brief! Nachmittags 4 Uhr, im schönsten Sonnenschein, in Schönbrunn, mitten im botanischen Garten, der merkwür- dig ist! wo ich mit Varnh. und dem Kinde grade war, und wohin uns Dore nachkam auf einem Bauerwagen -- Zeisel- wagen hier genannt, char-a-bancs; -- diese meine Schwe- sterliebe, und Sehnsucht, und Erinnrung blieb nun die Farbe meines ganzen Gemüthszustands für den Nachmittag: ich dachte mir Antworten für sie aus, Pläne, Wünsche, und war wirklich über das, was mich umgab, mehr zerstreut. Sorge um sie und Wehmuth über "das Unwiederbringliche" strich
18 *
des Sommers noch ſehen. Daran könnt ihr am beſten mei- nen Muth, das heißt, mein Hoffen ſehen. Adieu, adieu!
Rahel.
An M. Th. Robert, in Berlin.
Wien, Sonntags Abend 10 Uhr, den 2. April 1815.
(Schon ganz ermüdet von Warten, Beſuchen, Geſchrei, und Varnhagens Balgen mit meinem Kinde hier aus dem Hauſe. Seit 7 wenigſtens will ich ſchon ſchreiben, ohne dazu kommen zu können. Graf Löwenhjelm war unter andern auch hier. Nun fängt der Brief erſt an.) Geſtern endlich erhielt ich ei- nen Brief von Roſe, vom 20. März. Einen lieben Brief: der ſie mir ganz aus der Seelen Winkel hervorrief, und die ganze Sehnſucht, die man nur nach jüngern Geſchwiſtern fühlt, denen man zur Hälfte Mutter war, und die man in der Jugend, alſo halb verloren hat, weckte! Wo erhielt ich dieſen Brief! Nachmittags 4 Uhr, im ſchönſten Sonnenſchein, in Schönbrunn, mitten im botaniſchen Garten, der merkwür- dig iſt! wo ich mit Varnh. und dem Kinde grade war, und wohin uns Dore nachkam auf einem Bauerwagen — Zeiſel- wagen hier genannt, char-à-bancs; — dieſe meine Schwe- ſterliebe, und Sehnſucht, und Erinnrung blieb nun die Farbe meines ganzen Gemüthszuſtands für den Nachmittag: ich dachte mir Antworten für ſie aus, Pläne, Wünſche, und war wirklich über das, was mich umgab, mehr zerſtreut. Sorge um ſie und Wehmuth über „das Unwiederbringliche“ ſtrich
18 *
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0283"n="275"/>
des Sommers noch ſehen. <hirendition="#g">Dar</hi>an könnt ihr am beſten mei-<lb/>
nen Muth, das heißt, mein Hoffen ſehen. Adieu, adieu!</p><lb/><closer><salute><hirendition="#et">Rahel.</hi></salute></closer></div></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="2"><head>An M. Th. Robert, in Berlin.</head><lb/><dateline><hirendition="#et">Wien, Sonntags Abend 10 Uhr, den 2. April 1815.</hi></dateline><lb/><p>(Schon ganz ermüdet von Warten, Beſuchen, Geſchrei, und<lb/>
Varnhagens Balgen mit meinem Kinde hier aus dem Hauſe.<lb/>
Seit 7 wenigſtens will ich ſchon ſchreiben, ohne dazu kommen<lb/>
zu können. Graf Löwenhjelm war unter andern auch hier.<lb/>
Nun fängt der Brief erſt <hirendition="#g">an</hi>.) Geſtern endlich erhielt ich ei-<lb/>
nen Brief von Roſe, vom 20. März. Einen lieben Brief:<lb/>
der ſie mir ganz aus der Seelen Winkel hervorrief, und die<lb/>
ganze Sehnſucht, die man nur nach <hirendition="#g">jüngern</hi> Geſchwiſtern<lb/>
fühlt, denen man zur Hälfte Mutter war, und die man in<lb/>
der Jugend, alſo halb verloren hat, weckte! <hirendition="#g">Wo</hi> erhielt ich<lb/>
dieſen Brief! Nachmittags 4 Uhr, im ſchönſten Sonnenſchein,<lb/>
in Schönbrunn, mitten im botaniſchen Garten, der <hirendition="#g">merkwür-<lb/>
dig iſt</hi>! wo ich mit Varnh. und dem Kinde grade war, und<lb/>
wohin uns Dore nachkam auf einem Bauerwagen — Zeiſel-<lb/>
wagen hier genannt, <hirendition="#aq">char-à-bancs;</hi>— dieſe meine Schwe-<lb/>ſterliebe, und Sehnſucht, und Erinnrung blieb nun die Farbe<lb/>
meines ganzen Gemüthszuſtands für den Nachmittag: ich<lb/>
dachte mir Antworten für ſie aus, Pläne, Wünſche, und war<lb/>
wirklich über das, was mich umgab, mehr zerſtreut. Sorge<lb/>
um ſie und Wehmuth über „das Unwiederbringliche“ſtrich<lb/><fwplace="bottom"type="sig">18 *</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[275/0283]
des Sommers noch ſehen. Daran könnt ihr am beſten mei-
nen Muth, das heißt, mein Hoffen ſehen. Adieu, adieu!
Rahel.
An M. Th. Robert, in Berlin.
Wien, Sonntags Abend 10 Uhr, den 2. April 1815.
(Schon ganz ermüdet von Warten, Beſuchen, Geſchrei, und
Varnhagens Balgen mit meinem Kinde hier aus dem Hauſe.
Seit 7 wenigſtens will ich ſchon ſchreiben, ohne dazu kommen
zu können. Graf Löwenhjelm war unter andern auch hier.
Nun fängt der Brief erſt an.) Geſtern endlich erhielt ich ei-
nen Brief von Roſe, vom 20. März. Einen lieben Brief:
der ſie mir ganz aus der Seelen Winkel hervorrief, und die
ganze Sehnſucht, die man nur nach jüngern Geſchwiſtern
fühlt, denen man zur Hälfte Mutter war, und die man in
der Jugend, alſo halb verloren hat, weckte! Wo erhielt ich
dieſen Brief! Nachmittags 4 Uhr, im ſchönſten Sonnenſchein,
in Schönbrunn, mitten im botaniſchen Garten, der merkwür-
dig iſt! wo ich mit Varnh. und dem Kinde grade war, und
wohin uns Dore nachkam auf einem Bauerwagen — Zeiſel-
wagen hier genannt, char-à-bancs; — dieſe meine Schwe-
ſterliebe, und Sehnſucht, und Erinnrung blieb nun die Farbe
meines ganzen Gemüthszuſtands für den Nachmittag: ich
dachte mir Antworten für ſie aus, Pläne, Wünſche, und war
wirklich über das, was mich umgab, mehr zerſtreut. Sorge
um ſie und Wehmuth über „das Unwiederbringliche“ ſtrich
18 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/283>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.