"Deine dich ewigliebende Schwester" (oder Bruder) ist bei uns aus Ironie Mode.
R. R.
An Varnhagen, in Prag.
Es ist jetzt 2 Uhr Mittags, Sonntag, und der 15. December 1811.
Um 11 Uhr erhielt ich deinen Brief, ich war eben aus dem Bette gestiegen, (weil meine Nächte noch schlaflos, und meine Tage eben nicht besonders der Mühe werth sind, daß ich es mit Muth verlassen könnte, du sollst schon verstehen, wie so das;) als mir Dore deinen Brief überreichte. O! mein lieber, in gewissem Sinne, einziger Freund! hätten doch alle die guten Gefühle, die Gefühle der ernstesten, wahresten Freund- schaftsliebe, die des Beifalls, der Vorsätze, der Anhänglichkeit, kurz die ganze Liebe mit all ihrem Inhalt, sich zu Papier setzen wollen, die mir dieser Brief ablockte! Als es klingelt, dacht' ich: ein Brief von Varnh.; und er war es! Wer mich nicht warten läßt, und in keiner Liebe mich täuscht, bist doch du. Wenn's wirklich drauf ankömmt. Wisse auch du, daß als ich keinen Brief, und keinen Brief von dir bekam; ich wohl fühlte, du könnest meinen reproche -- nicht Vorwurf, nicht Verweis, beides aber -- anders noch genommen haben, als er aus mir hervorging, und der Gedanke bildete der Sehn- sucht das Thor. Ich dachte: zeig' es ihm, wie du doch von ihm denkest, wie er bei dir steht; und an wen sich deine Seele wendet, wenn -- sie sich überlegt hat, und sieht, und fühlt wie allein sie ist, und was auf der Welt ihr bleibt. Nein,
„Deine dich ewigliebende Schweſter“ (oder Bruder) iſt bei uns aus Ironie Mode.
R. R.
An Varnhagen, in Prag.
Es iſt jetzt 2 Uhr Mittags, Sonntag, und der 15. December 1811.
Um 11 Uhr erhielt ich deinen Brief, ich war eben aus dem Bette geſtiegen, (weil meine Nächte noch ſchlaflos, und meine Tage eben nicht beſonders der Mühe werth ſind, daß ich es mit Muth verlaſſen könnte, du ſollſt ſchon verſtehen, wie ſo das;) als mir Dore deinen Brief überreichte. O! mein lieber, in gewiſſem Sinne, einziger Freund! hätten doch alle die guten Gefühle, die Gefühle der ernſteſten, wahreſten Freund- ſchaftsliebe, die des Beifalls, der Vorſätze, der Anhänglichkeit, kurz die ganze Liebe mit all ihrem Inhalt, ſich zu Papier ſetzen wollen, die mir dieſer Brief ablockte! Als es klingelt, dacht’ ich: ein Brief von Varnh.; und er war es! Wer mich nicht warten läßt, und in keiner Liebe mich täuſcht, biſt doch du. Wenn’s wirklich drauf ankömmt. Wiſſe auch du, daß als ich keinen Brief, und keinen Brief von dir bekam; ich wohl fühlte, du könneſt meinen reproche — nicht Vorwurf, nicht Verweis, beides aber — anders noch genommen haben, als er aus mir hervorging, und der Gedanke bildete der Sehn- ſucht das Thor. Ich dachte: zeig’ es ihm, wie du doch von ihm denkeſt, wie er bei dir ſteht; und an wen ſich deine Seele wendet, wenn — ſie ſich überlegt hat, und ſieht, und fühlt wie allein ſie iſt, und was auf der Welt ihr bleibt. Nein,
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„Deine dich ewigliebende Schweſter“ (oder Bruder) iſt bei
uns aus Ironie Mode.
R. R.
An Varnhagen, in Prag.
Es iſt jetzt 2 Uhr Mittags, Sonntag,
und der 15. December 1811.
Um 11 Uhr erhielt ich deinen Brief, ich war eben aus
dem Bette geſtiegen, (weil meine Nächte noch ſchlaflos, und
meine Tage eben nicht beſonders der Mühe werth ſind, daß
ich es mit Muth verlaſſen könnte, du ſollſt ſchon verſtehen,
wie ſo das;) als mir Dore deinen Brief überreichte. O! mein
lieber, in gewiſſem Sinne, einziger Freund! hätten doch alle
die guten Gefühle, die Gefühle der ernſteſten, wahreſten Freund-
ſchaftsliebe, die des Beifalls, der Vorſätze, der Anhänglichkeit,
kurz die ganze Liebe mit all ihrem Inhalt, ſich zu Papier
ſetzen wollen, die mir dieſer Brief ablockte! Als es klingelt,
dacht’ ich: ein Brief von Varnh.; und er war es! Wer mich
nicht warten läßt, und in keiner Liebe mich täuſcht, biſt doch
du. Wenn’s wirklich drauf ankömmt. Wiſſe auch du, daß
als ich keinen Brief, und keinen Brief von dir bekam; ich
wohl fühlte, du könneſt meinen reproche — nicht Vorwurf,
nicht Verweis, beides aber — anders noch genommen haben,
als er aus mir hervorging, und der Gedanke bildete der Sehn-
ſucht das Thor. Ich dachte: zeig’ es ihm, wie du doch von
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wie allein ſie iſt, und was auf der Welt ihr bleibt. Nein,
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 570. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/584>, abgerufen am 20.11.2024.
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