ich gar nicht ertragen. Auch habe ich gefunden, daß ich das Allernöthigste, das Natürlichste, die rechtmäßigste Lebensnah- rung gewiß gelassen entbehren kann, wie ich noch von keinem sah; aber meine Ansprüche unter und von Menschen müssen mir nicht betrügrisch vorenthalten, oder entrückt werden. Wo von Recht und Sitte die Rede, muß es mir gehalten werden; an offenbare Gewalt gäbe ich auch das ruhig hin; gestohlen aber mit Heuchler-Worten und Thaten muß es mir nicht wer- den; und dies Stehlen von Staat und Gesellschaft konnivirt werden. Mein Ehrgeiz geht bei mir über alles; diese Em- pörung halt' ich dafür. Denn nie, ist mir eingefallen mehr als Andre sein zu wollen, oder ihnen ihr Recht nicht zu thun.
An Alexander von der Marwitz, in Friedersdorf.
Sonnabend früh 9 Uhr den 1. Juni 1811.
Gestern Abend um halb 12 kam ich im schönsten, aber kalten Mondschein, nach vielen Promenaden, mit den gräß- lichsten Kopfschmerzen nach Hause -- die Geschichte dieser Schmerzen nachher in zwei Worten; um Ihnen eine Idee meiner Gesundheit zu geben, -- und finde, wie unverhofft! Ihren Brief. Mein lieber, lieber Marwitz! Wie berührte dieser Brief lieb und schmerzhaft mein Herz. Wo stellt der mich hin! -- Wie der Staatssekretair der Elisabeth, der das Urtheil der Maria in Händen hat, und es auf seine Gefahr vollziehen lassen soll oder nicht: erst neulich, als ich Maria wieder sah, dacht' ich, "nie hättest du so gehandelt wie der! Elisabeth müßte aus dem Kabinet wieder vor!" Gott hat
ich gar nicht ertragen. Auch habe ich gefunden, daß ich das Allernöthigſte, das Natürlichſte, die rechtmäßigſte Lebensnah- rung gewiß gelaſſen entbehren kann, wie ich noch von keinem ſah; aber meine Anſprüche unter und von Menſchen müſſen mir nicht betrügriſch vorenthalten, oder entrückt werden. Wo von Recht und Sitte die Rede, muß es mir gehalten werden; an offenbare Gewalt gäbe ich auch das ruhig hin; geſtohlen aber mit Heuchler-Worten und Thaten muß es mir nicht wer- den; und dies Stehlen von Staat und Geſellſchaft konnivirt werden. Mein Ehrgeiz geht bei mir über alles; dieſe Em- pörung halt’ ich dafür. Denn nie, iſt mir eingefallen mehr als Andre ſein zu wollen, oder ihnen ihr Recht nicht zu thun.
An Alexander von der Marwitz, in Friedersdorf.
Sonnabend früh 9 Uhr den 1. Juni 1811.
Geſtern Abend um halb 12 kam ich im ſchönſten, aber kalten Mondſchein, nach vielen Promenaden, mit den gräß- lichſten Kopfſchmerzen nach Hauſe — die Geſchichte dieſer Schmerzen nachher in zwei Worten; um Ihnen eine Idee meiner Geſundheit zu geben, — und finde, wie unverhofft! Ihren Brief. Mein lieber, lieber Marwitz! Wie berührte dieſer Brief lieb und ſchmerzhaft mein Herz. Wo ſtellt der mich hin! — Wie der Staatsſekretair der Eliſabeth, der das Urtheil der Maria in Händen hat, und es auf ſeine Gefahr vollziehen laſſen ſoll oder nicht: erſt neulich, als ich Maria wieder ſah, dacht’ ich, „nie hätteſt du ſo gehandelt wie der! Eliſabeth müßte aus dem Kabinet wieder vor!“ Gott hat
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ich gar nicht ertragen. Auch habe ich gefunden, daß ich das
Allernöthigſte, das Natürlichſte, die rechtmäßigſte Lebensnah-
rung gewiß gelaſſen entbehren kann, wie ich noch von keinem
ſah; aber meine Anſprüche unter und von Menſchen müſſen
mir nicht betrügriſch vorenthalten, oder entrückt werden. Wo
von Recht und Sitte die Rede, muß es mir gehalten werden;
an offenbare Gewalt gäbe ich auch das ruhig hin; geſtohlen
aber mit Heuchler-Worten und Thaten muß es mir nicht wer-
den; und dies Stehlen von Staat und Geſellſchaft konnivirt
werden. Mein Ehrgeiz geht bei mir über alles; dieſe Em-
pörung halt’ ich dafür. Denn nie, iſt mir eingefallen mehr
als Andre ſein zu wollen, oder ihnen ihr Recht nicht zu thun.
An Alexander von der Marwitz, in Friedersdorf.
Sonnabend früh 9 Uhr den 1. Juni 1811.
Geſtern Abend um halb 12 kam ich im ſchönſten, aber
kalten Mondſchein, nach vielen Promenaden, mit den gräß-
lichſten Kopfſchmerzen nach Hauſe — die Geſchichte dieſer
Schmerzen nachher in zwei Worten; um Ihnen eine Idee
meiner Geſundheit zu geben, — und finde, wie unverhofft!
Ihren Brief. Mein lieber, lieber Marwitz! Wie berührte
dieſer Brief lieb und ſchmerzhaft mein Herz. Wo ſtellt der
mich hin! — Wie der Staatsſekretair der Eliſabeth, der das
Urtheil der Maria in Händen hat, und es auf ſeine Gefahr
vollziehen laſſen ſoll oder nicht: erſt neulich, als ich Maria
wieder ſah, dacht’ ich, „nie hätteſt du ſo gehandelt wie der!
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 511. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/525>, abgerufen am 20.11.2024.
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