ken, denn heilt ihn nicht unmittelbar die frische rüstige Thätigkeit des Reisens, so muß ihm doppelt weh werden in den fremden Umgebungen. Was meinen Sie, liebe Rahel? hätte ich die Aussicht, ein Heldenthum der Wissenschaft in mir zu gründen, so sollte mich nichts forttreiben aus meinem Winkel hier, aber die ist mir ganz verdunkelt durch meine arge Krankheit. Soll ich mich nun anschließen an die leibliche Seite meines Vaterlandes, die ich erst begeistern, erst einer großen spekulativen Ansicht unterwerfen muß, wenn sie mir nicht ganz gebrechlich und todt erscheinen soll. Also wieder die Wissenschaft wäre da vonnöthen, deren ich mich nicht mächtig fühle. Dort aber flammt ein hoher Enthusiasmus, eine große Angelegenheit wird von großen Talenten mächtig vorwärts getrie- ben, die eigne Thätigkeit kann sich emporrichten und stärken durch die fremde; auch Freunde habe ich dort. Wäre es so unrecht, die Kraft der südlichen Sonne an mir zu prüfen? Ich muß schließen, liebe Rahel, denn die Post geht durch. Am Sonntag mehr, und, wo möglich, Ge- ordneteres, Besonneneres. Auf keinen Fall bleibe ich länger hier, als bis ich die Kur ausgebraucht habe, (das dauert noch drei Wochen). Dann muß das Entscheidende geschehn, wenn Ihr nächster Brief es nicht früher herbeiruft. Adieu. A. M.
Den 29. Mai 1811.
-- So wie manchmal Menschen keinen hübschen Zug im Gesichte, keine zu lobende Proportion am Körper haben, und doch einen gefälligen Eindruck machen; recht tadlenswürdige Gemüthseigenschaften haben, und doch angenehm sind; so ist es bei mir umgekehrt. Ich bin nicht so unglücklich, als man denken sollte, wenn ich mir dies recht überlege; im Gegentheil, dieses Denken macht mich sehr ruhig. Ich vergöttre doch ge- wiß Schönheit, bete sie an. Kenne ihre ganze Macht, ihr ganzes Glück, was sie giebt, und mit sich führt. Ich habe mir's ein wenig überlegt. Die Mißgeschicke, die unmittelbar vom Himmel kommen, ertrag' ich immer mit ganzer Seele, ruhig. Wo aber Unbill, von Menschen ausgeführt, mich be- fährdet; da ist meine Seele nicht zusammen, und dies kann
ken, denn heilt ihn nicht unmittelbar die friſche rüſtige Thätigkeit des Reiſens, ſo muß ihm doppelt weh werden in den fremden Umgebungen. Was meinen Sie, liebe Rahel? hätte ich die Ausſicht, ein Heldenthum der Wiſſenſchaft in mir zu gründen, ſo ſollte mich nichts forttreiben aus meinem Winkel hier, aber die iſt mir ganz verdunkelt durch meine arge Krankheit. Soll ich mich nun anſchließen an die leibliche Seite meines Vaterlandes, die ich erſt begeiſtern, erſt einer großen ſpekulativen Anſicht unterwerfen muß, wenn ſie mir nicht ganz gebrechlich und todt erſcheinen ſoll. Alſo wieder die Wiſſenſchaft wäre da vonnöthen, deren ich mich nicht mächtig fühle. Dort aber flammt ein hoher Enthuſiasmus, eine große Angelegenheit wird von großen Talenten mächtig vorwärts getrie- ben, die eigne Thätigkeit kann ſich emporrichten und ſtärken durch die fremde; auch Freunde habe ich dort. Wäre es ſo unrecht, die Kraft der ſüdlichen Sonne an mir zu prüfen? Ich muß ſchließen, liebe Rahel, denn die Poſt geht durch. Am Sonntag mehr, und, wo möglich, Ge- ordneteres, Beſonneneres. Auf keinen Fall bleibe ich länger hier, als bis ich die Kur ausgebraucht habe, (das dauert noch drei Wochen). Dann muß das Entſcheidende geſchehn, wenn Ihr nächſter Brief es nicht früher herbeiruft. Adieu. A. M.
Den 29. Mai 1811.
— So wie manchmal Menſchen keinen hübſchen Zug im Geſichte, keine zu lobende Proportion am Körper haben, und doch einen gefälligen Eindruck machen; recht tadlenswürdige Gemüthseigenſchaften haben, und doch angenehm ſind; ſo iſt es bei mir umgekehrt. Ich bin nicht ſo unglücklich, als man denken ſollte, wenn ich mir dies recht überlege; im Gegentheil, dieſes Denken macht mich ſehr ruhig. Ich vergöttre doch ge- wiß Schönheit, bete ſie an. Kenne ihre ganze Macht, ihr ganzes Glück, was ſie giebt, und mit ſich führt. Ich habe mir’s ein wenig überlegt. Die Mißgeſchicke, die unmittelbar vom Himmel kommen, ertrag’ ich immer mit ganzer Seele, ruhig. Wo aber Unbill, von Menſchen ausgeführt, mich be- fährdet; da iſt meine Seele nicht zuſammen, und dies kann
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ken, denn heilt ihn nicht unmittelbar die friſche rüſtige Thätigkeit des
Reiſens, ſo muß ihm doppelt weh werden in den fremden Umgebungen.
Was meinen Sie, liebe Rahel? hätte ich die Ausſicht, ein Heldenthum
der Wiſſenſchaft in mir zu gründen, ſo ſollte mich nichts forttreiben aus
meinem Winkel hier, aber die iſt mir ganz verdunkelt durch meine arge
Krankheit. Soll ich mich nun anſchließen an die leibliche Seite meines
Vaterlandes, die ich erſt begeiſtern, erſt einer großen ſpekulativen Anſicht
unterwerfen muß, wenn ſie mir nicht ganz gebrechlich und todt erſcheinen
ſoll. Alſo wieder die Wiſſenſchaft wäre da vonnöthen, deren ich mich
nicht mächtig fühle. Dort aber flammt ein hoher Enthuſiasmus, eine
große Angelegenheit wird von großen Talenten mächtig vorwärts getrie-
ben, die eigne Thätigkeit kann ſich emporrichten und ſtärken durch die
fremde; auch Freunde habe ich dort. Wäre es ſo unrecht, die Kraft der
ſüdlichen Sonne an mir zu prüfen? Ich muß ſchließen, liebe Rahel,
denn die Poſt geht durch. Am Sonntag mehr, und, wo möglich, Ge-
ordneteres, Beſonneneres. Auf keinen Fall bleibe ich länger hier, als
bis ich die Kur ausgebraucht habe, (das dauert noch drei Wochen). Dann
muß das Entſcheidende geſchehn, wenn Ihr nächſter Brief es nicht früher
herbeiruft. Adieu. A. M.
Den 29. Mai 1811.
— So wie manchmal Menſchen keinen hübſchen Zug im
Geſichte, keine zu lobende Proportion am Körper haben, und
doch einen gefälligen Eindruck machen; recht tadlenswürdige
Gemüthseigenſchaften haben, und doch angenehm ſind; ſo iſt
es bei mir umgekehrt. Ich bin nicht ſo unglücklich, als man
denken ſollte, wenn ich mir dies recht überlege; im Gegentheil,
dieſes Denken macht mich ſehr ruhig. Ich vergöttre doch ge-
wiß Schönheit, bete ſie an. Kenne ihre ganze Macht, ihr
ganzes Glück, was ſie giebt, und mit ſich führt. Ich habe
mir’s ein wenig überlegt. Die Mißgeſchicke, die unmittelbar
vom Himmel kommen, ertrag’ ich immer mit ganzer Seele,
ruhig. Wo aber Unbill, von Menſchen ausgeführt, mich be-
fährdet; da iſt meine Seele nicht zuſammen, und dies kann
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 510. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/524>, abgerufen am 20.11.2024.
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