Herr Jesus liiren sie sich lieber, um es nur nicht mit ihren wahren Freunden und Brüdern zu sein, denen sie leisten sol- len, die sie ertragen sollen, denen sie opfern sollen, um zu erleben, daß der Freunde Leben aufgeht, wie ein glücklich Ge- wächs! H. sprach ich gestern in dem Sinn, und machte ihn sehr unglücklich. Aber noch lange sagt' ich nicht alles; ich verschwieg die Details. Marwitz hab' ich dies noch nie ge- sagt; weil ich ihn zu sehr liebe; und es zu persönlich würde. Auch kann es mal hervorbrechen; und von weitem, sind wir getrennt, gewiß. --
An Alexander von der Marwitz, in Friedersdorf.
Sonntag Vormittag im hellsten Sonnenschein, den 5. Mai 1811.
Sie sind nun im dicksten Frühling; das denk' ich mir. Hundertfältiges Grün, geputzte Blüthen, alles empfängt Sie, und weht Ihnen Juni-Gedanken an, das thut der Mai; leichtere Schatten präsentiren sich schon. Ob ich es Ihnen gönne! und sollte ich unterdeß eingesperrt sein. Und doch ist es mir, als raubte man Ihnen von dem Genuß, weil ich nicht zusehe, wie Sie genießen; kein Wort höre. Gestern war ein verdutzendes Wetter, und den ganzen Tag beleidigte es mich, daß es Ihr Reisewetter sein mußte. Wie ganz anders wäre Ihnen das Entkommen aus der Stadt bei einem lieblichen Wetter, wie heute, vorgekommen. Ich rechnete mich zu Tode, den ganzen Tag, wie das ist. Als ich nach 11 Uhr von Ma- dame F. ging, konnt' ich durchaus keine Gewißheit in mir
Herr Jeſus liiren ſie ſich lieber, um es nur nicht mit ihren wahren Freunden und Brüdern zu ſein, denen ſie leiſten ſol- len, die ſie ertragen ſollen, denen ſie opfern ſollen, um zu erleben, daß der Freunde Leben aufgeht, wie ein glücklich Ge- wächs! H. ſprach ich geſtern in dem Sinn, und machte ihn ſehr unglücklich. Aber noch lange ſagt’ ich nicht alles; ich verſchwieg die Details. Marwitz hab’ ich dies noch nie ge- ſagt; weil ich ihn zu ſehr liebe; und es zu perſönlich würde. Auch kann es mal hervorbrechen; und von weitem, ſind wir getrennt, gewiß. —
An Alexander von der Marwitz, in Friedersdorf.
Sonntag Vormittag im hellſten Sonnenſchein, den 5. Mai 1811.
Sie ſind nun im dickſten Frühling; das denk’ ich mir. Hundertfältiges Grün, geputzte Blüthen, alles empfängt Sie, und weht Ihnen Juni-Gedanken an, das thut der Mai; leichtere Schatten präſentiren ſich ſchon. Ob ich es Ihnen gönne! und ſollte ich unterdeß eingeſperrt ſein. Und doch iſt es mir, als raubte man Ihnen von dem Genuß, weil ich nicht zuſehe, wie Sie genießen; kein Wort höre. Geſtern war ein verdutzendes Wetter, und den ganzen Tag beleidigte es mich, daß es Ihr Reiſewetter ſein mußte. Wie ganz anders wäre Ihnen das Entkommen aus der Stadt bei einem lieblichen Wetter, wie heute, vorgekommen. Ich rechnete mich zu Tode, den ganzen Tag, wie das iſt. Als ich nach 11 Uhr von Ma- dame F. ging, konnt’ ich durchaus keine Gewißheit in mir
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Herr Jeſus liiren ſie ſich lieber, um es nur nicht mit ihren
wahren Freunden und Brüdern zu ſein, denen ſie leiſten ſol-
len, die ſie ertragen ſollen, denen ſie opfern ſollen, um zu
erleben, daß der Freunde Leben aufgeht, wie ein glücklich Ge-
wächs! H. ſprach ich geſtern in dem Sinn, und machte ihn
ſehr unglücklich. Aber noch lange ſagt’ ich nicht alles; ich
verſchwieg die Details. Marwitz hab’ ich dies noch nie ge-
ſagt; weil ich ihn zu ſehr liebe; und es zu perſönlich würde.
Auch kann es mal hervorbrechen; und von weitem, ſind wir
getrennt, gewiß. —
An Alexander von der Marwitz, in Friedersdorf.
Sonntag Vormittag im hellſten Sonnenſchein,
den 5. Mai 1811.
Sie ſind nun im dickſten Frühling; das denk’ ich mir.
Hundertfältiges Grün, geputzte Blüthen, alles empfängt Sie,
und weht Ihnen Juni-Gedanken an, das thut der Mai;
leichtere Schatten präſentiren ſich ſchon. Ob ich es Ihnen
gönne! und ſollte ich unterdeß eingeſperrt ſein. Und doch iſt
es mir, als raubte man Ihnen von dem Genuß, weil ich nicht
zuſehe, wie Sie genießen; kein Wort höre. Geſtern war ein
verdutzendes Wetter, und den ganzen Tag beleidigte es mich,
daß es Ihr Reiſewetter ſein mußte. Wie ganz anders wäre
Ihnen das Entkommen aus der Stadt bei einem lieblichen
Wetter, wie heute, vorgekommen. Ich rechnete mich zu Tode,
den ganzen Tag, wie das iſt. Als ich nach 11 Uhr von Ma-
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 492. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/506>, abgerufen am 20.11.2024.
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