Ohren, -- denn Bescheidenheit kann wohl Ursache sein, keine Ansprüche zu machen aber die allergrößten zu haben kann sie nicht verhindern. Den Abscheu vor dem Zuhausekommen fühle ich deutlich mit Ihnen, der ist Ihnen auch nicht abzunehmen: das ist eigentlich der Gräuel vor Berlin. In Berlin giebt er sich. Sie werden wieder arbeiten, der Winter Ihnen verbie- ten das Freie zu suchen, Sie werden Ihr chez soi lieben, die fremden Gestalten vergessen, und an dem Busen Ihrer Freunde sanft ruhen, und das Irrleben abschwören. Im Ernst! ma- chen Sie sich noch recht viel Vergnügen! Und kommen Sie versöhnt zu "deinem dich ewigliebenden Bruder" schreibt Mo- ritz immer!
Seit drei Tagen ist hier Mordkälte, nehmen Sie sich vor kalt Fieber in Acht; in Dresden wird es schrecklich kurirt!
An Varnhagen, in Steinfurt.
Berlin, im Januar 1811.
-- -- Auch ist für mich alles Schicksal, Entwickelung, Geschichte. Ich schiebe nichts auf Menschen. Ein höheres Gebiet regiert dies. Dies ist meine ganze Religion; darin leb' ich. -- Ich habe viel Unglück erlebt: dazu hatte ich Ta- lent: der größte Virtuos bin ich darin. Heraus bin ich aus der Sphäre; mein Loos ist raus aus dem Lotto; am Körper kann ich nur noch torturirt werden: mit der Natur hab' ich noch zu schaffen. -- Sehen wir uns, so findest du mich doch lebendig wieder: nicht allein nicht begraben, sondern, zum Weiterleben, mit Geist, und Verstand, und aller redlichen, le-
Ohren, — denn Beſcheidenheit kann wohl Urſache ſein, keine Anſprüche zu machen aber die allergrößten zu haben kann ſie nicht verhindern. Den Abſcheu vor dem Zuhauſekommen fühle ich deutlich mit Ihnen, der iſt Ihnen auch nicht abzunehmen: das iſt eigentlich der Gräuel vor Berlin. In Berlin giebt er ſich. Sie werden wieder arbeiten, der Winter Ihnen verbie- ten das Freie zu ſuchen, Sie werden Ihr chez soi lieben, die fremden Geſtalten vergeſſen, und an dem Buſen Ihrer Freunde ſanft ruhen, und das Irrleben abſchwören. Im Ernſt! ma- chen Sie ſich noch recht viel Vergnügen! Und kommen Sie verſöhnt zu „deinem dich ewigliebenden Bruder“ ſchreibt Mo- ritz immer!
Seit drei Tagen iſt hier Mordkälte, nehmen Sie ſich vor kalt Fieber in Acht; in Dresden wird es ſchrecklich kurirt!
An Varnhagen, in Steinfurt.
Berlin, im Januar 1811.
— — Auch iſt für mich alles Schickſal, Entwickelung, Geſchichte. Ich ſchiebe nichts auf Menſchen. Ein höheres Gebiet regiert dies. Dies iſt meine ganze Religion; darin leb’ ich. — Ich habe viel Unglück erlebt: dazu hatte ich Ta- lent: der größte Virtuos bin ich darin. Heraus bin ich aus der Sphäre; mein Loos iſt raus aus dem Lotto; am Körper kann ich nur noch torturirt werden: mit der Natur hab’ ich noch zu ſchaffen. — Sehen wir uns, ſo findeſt du mich doch lebendig wieder: nicht allein nicht begraben, ſondern, zum Weiterleben, mit Geiſt, und Verſtand, und aller redlichen, le-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0500"n="486"/>
Ohren, — denn Beſcheidenheit kann wohl Urſache ſein, keine<lb/>
Anſprüche zu machen aber die allergrößten zu haben kann ſie<lb/>
nicht verhindern. Den Abſcheu vor dem Zuhauſekommen fühle<lb/>
ich deutlich mit Ihnen, der iſt Ihnen auch nicht abzunehmen:<lb/>
das iſt eigentlich der Gräuel vor Berlin. In Berlin giebt er<lb/>ſich. Sie werden wieder arbeiten, der Winter Ihnen verbie-<lb/>
ten das Freie zu ſuchen, Sie werden Ihr <hirendition="#aq">chez soi</hi> lieben, die<lb/>
fremden Geſtalten vergeſſen, und an dem Buſen Ihrer Freunde<lb/>ſanft ruhen, und das Irrleben abſchwören. <hirendition="#g">Im Ernſt</hi>! ma-<lb/>
chen Sie ſich noch recht viel Vergnügen! Und kommen Sie<lb/>
verſöhnt zu „deinem dich ewigliebenden Bruder“ſchreibt Mo-<lb/>
ritz immer!</p><lb/><p>Seit drei Tagen iſt hier Mordkälte, nehmen Sie ſich vor<lb/>
kalt Fieber in Acht; in Dresden wird es ſchrecklich kurirt!</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="2"><head>An Varnhagen, in Steinfurt.</head><lb/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Berlin, im Januar 1811.</hi></dateline><lb/><p>—— Auch iſt für mich alles Schickſal, Entwickelung,<lb/>
Geſchichte. Ich ſchiebe nichts auf Menſchen. Ein höheres<lb/>
Gebiet regiert dies. Dies iſt meine ganze Religion; darin<lb/>
leb’ ich. — Ich habe viel Unglück erlebt: dazu hatte ich Ta-<lb/>
lent: der größte Virtuos bin ich darin. Heraus bin ich aus<lb/>
der Sphäre; mein Loos iſt raus aus dem Lotto; am Körper<lb/>
kann ich nur noch torturirt werden: mit der Natur hab’ ich<lb/>
noch zu ſchaffen. — Sehen wir uns, ſo findeſt du mich doch<lb/>
lebendig wieder: nicht allein nicht begraben, ſondern, zum<lb/>
Weiterleben, mit Geiſt, und Verſtand, und aller redlichen, le-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[486/0500]
Ohren, — denn Beſcheidenheit kann wohl Urſache ſein, keine
Anſprüche zu machen aber die allergrößten zu haben kann ſie
nicht verhindern. Den Abſcheu vor dem Zuhauſekommen fühle
ich deutlich mit Ihnen, der iſt Ihnen auch nicht abzunehmen:
das iſt eigentlich der Gräuel vor Berlin. In Berlin giebt er
ſich. Sie werden wieder arbeiten, der Winter Ihnen verbie-
ten das Freie zu ſuchen, Sie werden Ihr chez soi lieben, die
fremden Geſtalten vergeſſen, und an dem Buſen Ihrer Freunde
ſanft ruhen, und das Irrleben abſchwören. Im Ernſt! ma-
chen Sie ſich noch recht viel Vergnügen! Und kommen Sie
verſöhnt zu „deinem dich ewigliebenden Bruder“ ſchreibt Mo-
ritz immer!
Seit drei Tagen iſt hier Mordkälte, nehmen Sie ſich vor
kalt Fieber in Acht; in Dresden wird es ſchrecklich kurirt!
An Varnhagen, in Steinfurt.
Berlin, im Januar 1811.
— — Auch iſt für mich alles Schickſal, Entwickelung,
Geſchichte. Ich ſchiebe nichts auf Menſchen. Ein höheres
Gebiet regiert dies. Dies iſt meine ganze Religion; darin
leb’ ich. — Ich habe viel Unglück erlebt: dazu hatte ich Ta-
lent: der größte Virtuos bin ich darin. Heraus bin ich aus
der Sphäre; mein Loos iſt raus aus dem Lotto; am Körper
kann ich nur noch torturirt werden: mit der Natur hab’ ich
noch zu ſchaffen. — Sehen wir uns, ſo findeſt du mich doch
lebendig wieder: nicht allein nicht begraben, ſondern, zum
Weiterleben, mit Geiſt, und Verſtand, und aller redlichen, le-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 486. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/500>, abgerufen am 20.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.