Liebe geliebte Schwester, welche bittre, bittre unverdauliche Vorwürfe mache ich mir, euch, meine sehr Lieben, auf eure in- time wahrhafte Freundschaftsbriefe durchaus nicht geantwortet zu haben: ihr müßt glauben, ich habe sie nicht empfunden. Nur gestört war ich diesen Winter: gräßlich gestört. Durch ein Geschöpf, welches mir alle Stimmung, alle Muße raubte. Noch sitzt diese Person neben mir, und jammert und weint. Zu bedauren war ich; aber erzählen kann ich es in einem Briefe nicht. Meine Angst und mein Gewissen treiben mich dazu, dir diese wenigen unverständlichen Worte zu schreiben, sonst thät' ich's noch nicht. Zu euch kommen thäte ich gerne: ich habe aber noch kein Geld zur Reise -- zu leben habe ich -- zusammenfinden können. Dir Karl und Rose dankt mein tiefstes wahrstes Herz für euer Anerbieten, bei euch zu leben. Ganz und durchaus Recht gebe ich dir, Karl, auf deinen letz- ten Brief, den du mir schreibst. Das Leben kann man ehr zerreißen, in Dürftigkeit hinbringen, eh man die Ehre zerreißt; ich denke wie du, wie Rose: was Ehre ist, worin sie in dei- ner Lage, in deinen Verhältnissen besteht, kannst du nur ganz allein beurtheilen: und ich füge mich im voraus mit meiner klarsten Überzeugung allen deinen Beschlüssen: nur theile sie mir mit. -- Warum verstummt ihr: wenn ich nicht reden kann! Ihr müßt mir immer schreiben; und alles was euch betrifft mittheilen! -- oder ihr setzet voraus, es ist lockeres loses We- sen, daß ich euch nicht schreibe. Nur Störung ist es, von
An Roſe, in Amſterdam.
Berlin, Dienstag den 20. Februar 1810.
Liebe geliebte Schweſter, welche bittre, bittre unverdauliche Vorwürfe mache ich mir, euch, meine ſehr Lieben, auf eure in- time wahrhafte Freundſchaftsbriefe durchaus nicht geantwortet zu haben: ihr müßt glauben, ich habe ſie nicht empfunden. Nur geſtört war ich dieſen Winter: gräßlich geſtört. Durch ein Geſchöpf, welches mir alle Stimmung, alle Muße raubte. Noch ſitzt dieſe Perſon neben mir, und jammert und weint. Zu bedauren war ich; aber erzählen kann ich es in einem Briefe nicht. Meine Angſt und mein Gewiſſen treiben mich dazu, dir dieſe wenigen unverſtändlichen Worte zu ſchreiben, ſonſt thät’ ich’s noch nicht. Zu euch kommen thäte ich gerne: ich habe aber noch kein Geld zur Reiſe — zu leben habe ich — zuſammenfinden können. Dir Karl und Roſe dankt mein tiefſtes wahrſtes Herz für euer Anerbieten, bei euch zu leben. Ganz und durchaus Recht gebe ich dir, Karl, auf deinen letz- ten Brief, den du mir ſchreibſt. Das Leben kann man ehr zerreißen, in Dürftigkeit hinbringen, eh man die Ehre zerreißt; ich denke wie du, wie Roſe: was Ehre iſt, worin ſie in dei- ner Lage, in deinen Verhältniſſen beſteht, kannſt du nur ganz allein beurtheilen: und ich füge mich im voraus mit meiner klarſten Überzeugung allen deinen Beſchlüſſen: nur theile ſie mir mit. — Warum verſtummt ihr: wenn ich nicht reden kann! Ihr müßt mir immer ſchreiben; und alles was euch betrifft mittheilen! — oder ihr ſetzet voraus, es iſt lockeres loſes We- ſen, daß ich euch nicht ſchreibe. Nur Störung iſt es, von
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[463/0477]
An Roſe, in Amſterdam.
Berlin, Dienstag den 20. Februar 1810.
Liebe geliebte Schweſter, welche bittre, bittre unverdauliche
Vorwürfe mache ich mir, euch, meine ſehr Lieben, auf eure in-
time wahrhafte Freundſchaftsbriefe durchaus nicht geantwortet
zu haben: ihr müßt glauben, ich habe ſie nicht empfunden.
Nur geſtört war ich dieſen Winter: gräßlich geſtört. Durch
ein Geſchöpf, welches mir alle Stimmung, alle Muße raubte.
Noch ſitzt dieſe Perſon neben mir, und jammert und weint.
Zu bedauren war ich; aber erzählen kann ich es in einem
Briefe nicht. Meine Angſt und mein Gewiſſen treiben mich
dazu, dir dieſe wenigen unverſtändlichen Worte zu ſchreiben,
ſonſt thät’ ich’s noch nicht. Zu euch kommen thäte ich gerne:
ich habe aber noch kein Geld zur Reiſe — zu leben habe ich
— zuſammenfinden können. Dir Karl und Roſe dankt mein
tiefſtes wahrſtes Herz für euer Anerbieten, bei euch zu leben.
Ganz und durchaus Recht gebe ich dir, Karl, auf deinen letz-
ten Brief, den du mir ſchreibſt. Das Leben kann man ehr
zerreißen, in Dürftigkeit hinbringen, eh man die Ehre zerreißt;
ich denke wie du, wie Roſe: was Ehre iſt, worin ſie in dei-
ner Lage, in deinen Verhältniſſen beſteht, kannſt du nur ganz
allein beurtheilen: und ich füge mich im voraus mit meiner
klarſten Überzeugung allen deinen Beſchlüſſen: nur theile ſie
mir mit. — Warum verſtummt ihr: wenn ich nicht reden kann!
Ihr müßt mir immer ſchreiben; und alles was euch betrifft
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 463. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/477>, abgerufen am 20.11.2024.
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