Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

Der junge R., ich glaube er hat in Heidelberg studirt,
einundzwanzig Jahre alt, schrieb an M. neulich einen langen
Brief, worin man sieht, was er gelesen hat und was er hat
sprechen hören. Der neue Katholizismus geht ihm im Kopfe
herum, und Kunst und Bilder und Musik, wie man davon
spricht; und wie sie nur von denen aufgenommen werden,
die von selbst nie darauf gekommen wären; die diese großen
Musengestalten nie im Weltwirrwarr herausgefunden hätten.
Der junge, gute, sonst unschuldige Mann spürt eine Leere in
sich, die ihm etwas widert, daher sucht er um sich; hält sei-
nen Ennui für traurige Anklänge von wer weiß was; dies
alles untereinander weiß er in einem Meere angelernter Phra-
sen und Worte auszudrücken, plätschert darin herum, es sind
eben so viele Wellen; taucht unter, steigt wieder hinauf; sie
tragen ihn, und so findet er sich gehoben von Ausdrücken,
von Zeichen! Alles dies fällt mir nur bei ihm wieder ein; und
ich zeichne es mir wirklich auf, weil ich die -- dafür gehal-
tene -- gute Erziehung ordentlich für affadirend halte. Es
ist grade so, als wäre solche Bildung zu Kaufe: so bekommt
jetzt jeder um ein Billiges seinen Vorrath von Bildung mit,
aus den Schulen, den Häusern, den Büchern, den Theestuben;
die Industrie des Erfindens wird ihm durch den großen Über-
fluß ganz unmöglich gemacht. Und ein doppelter Frager, ein
doppelter Antworter muß jetzt in einem Kopfe sitzen, wenn er
nur auf den Gedanken kommen soll, sich Rechenschaft über
den Scheinreichthum zu fordern, womit er allenthalben durch-
kommt. Kunst, Religion u. dgl. sind die Louisd'or; Mensch-


Der junge R., ich glaube er hat in Heidelberg ſtudirt,
einundzwanzig Jahre alt, ſchrieb an M. neulich einen langen
Brief, worin man ſieht, was er geleſen hat und was er hat
ſprechen hören. Der neue Katholizismus geht ihm im Kopfe
herum, und Kunſt und Bilder und Muſik, wie man davon
ſpricht; und wie ſie nur von denen aufgenommen werden,
die von ſelbſt nie darauf gekommen wären; die dieſe großen
Muſengeſtalten nie im Weltwirrwarr herausgefunden hätten.
Der junge, gute, ſonſt unſchuldige Mann ſpürt eine Leere in
ſich, die ihm etwas widert, daher ſucht er um ſich; hält ſei-
nen Ennui für traurige Anklänge von wer weiß was; dies
alles untereinander weiß er in einem Meere angelernter Phra-
ſen und Worte auszudrücken, plätſchert darin herum, es ſind
eben ſo viele Wellen; taucht unter, ſteigt wieder hinauf; ſie
tragen ihn, und ſo findet er ſich gehoben von Ausdrücken,
von Zeichen! Alles dies fällt mir nur bei ihm wieder ein; und
ich zeichne es mir wirklich auf, weil ich die — dafür gehal-
tene — gute Erziehung ordentlich für affadirend halte. Es
iſt grade ſo, als wäre ſolche Bildung zu Kaufe: ſo bekommt
jetzt jeder um ein Billiges ſeinen Vorrath von Bildung mit,
aus den Schulen, den Häuſern, den Büchern, den Theeſtuben;
die Induſtrie des Erfindens wird ihm durch den großen Über-
fluß ganz unmöglich gemacht. Und ein doppelter Frager, ein
doppelter Antworter muß jetzt in einem Kopfe ſitzen, wenn er
nur auf den Gedanken kommen ſoll, ſich Rechenſchaft über
den Scheinreichthum zu fordern, womit er allenthalben durch-
kommt. Kunſt, Religion u. dgl. ſind die Louisd’or; Menſch-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0472" n="458"/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Berlin, den 2. Januar 1810.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Der junge R., ich glaube er hat in Heidelberg &#x017F;tudirt,<lb/>
einundzwanzig Jahre alt, &#x017F;chrieb an M. neulich einen langen<lb/>
Brief, worin man &#x017F;ieht, was er gele&#x017F;en hat und was er hat<lb/>
&#x017F;prechen hören. Der neue Katholizismus geht ihm im Kopfe<lb/>
herum, und Kun&#x017F;t und Bilder und Mu&#x017F;ik, wie man davon<lb/>
&#x017F;pricht; und wie &#x017F;ie nur von denen aufgenommen werden,<lb/>
die von &#x017F;elb&#x017F;t nie darauf gekommen wären; die die&#x017F;e großen<lb/>
Mu&#x017F;enge&#x017F;talten nie im Weltwirrwarr herausgefunden hätten.<lb/>
Der junge, gute, &#x017F;on&#x017F;t un&#x017F;chuldige Mann &#x017F;pürt eine Leere in<lb/>
&#x017F;ich, die ihm etwas widert, daher &#x017F;ucht er um &#x017F;ich; hält &#x017F;ei-<lb/>
nen Ennui für traurige Anklänge von wer weiß was; dies<lb/>
alles untereinander weiß er in einem Meere angelernter Phra-<lb/>
&#x017F;en und Worte auszudrücken, plät&#x017F;chert darin herum, es &#x017F;ind<lb/>
eben &#x017F;o viele Wellen; taucht unter, &#x017F;teigt wieder hinauf; &#x017F;ie<lb/>
tragen ihn, und &#x017F;o findet er &#x017F;ich gehoben von Ausdrücken,<lb/>
von Zeichen! Alles dies fällt mir nur bei ihm wieder ein; und<lb/>
ich zeichne es mir wirklich auf, weil ich die &#x2014; dafür gehal-<lb/>
tene &#x2014; gute Erziehung ordentlich für affadirend halte. Es<lb/>
i&#x017F;t grade &#x017F;o, als wäre &#x017F;olche Bildung zu Kaufe: &#x017F;o bekommt<lb/>
jetzt jeder um ein Billiges &#x017F;einen Vorrath von Bildung mit,<lb/>
aus den Schulen, den Häu&#x017F;ern, den Büchern, den Thee&#x017F;tuben;<lb/>
die Indu&#x017F;trie des Erfindens wird ihm durch den großen Über-<lb/>
fluß ganz unmöglich gemacht. Und ein doppelter Frager, ein<lb/>
doppelter Antworter muß jetzt in einem Kopfe &#x017F;itzen, wenn er<lb/>
nur auf den Gedanken kommen &#x017F;oll, &#x017F;ich Rechen&#x017F;chaft über<lb/>
den Scheinreichthum zu fordern, womit er allenthalben durch-<lb/>
kommt. Kun&#x017F;t, Religion u. dgl. &#x017F;ind die Louisd&#x2019;or; Men&#x017F;ch-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[458/0472] Berlin, den 2. Januar 1810. Der junge R., ich glaube er hat in Heidelberg ſtudirt, einundzwanzig Jahre alt, ſchrieb an M. neulich einen langen Brief, worin man ſieht, was er geleſen hat und was er hat ſprechen hören. Der neue Katholizismus geht ihm im Kopfe herum, und Kunſt und Bilder und Muſik, wie man davon ſpricht; und wie ſie nur von denen aufgenommen werden, die von ſelbſt nie darauf gekommen wären; die dieſe großen Muſengeſtalten nie im Weltwirrwarr herausgefunden hätten. Der junge, gute, ſonſt unſchuldige Mann ſpürt eine Leere in ſich, die ihm etwas widert, daher ſucht er um ſich; hält ſei- nen Ennui für traurige Anklänge von wer weiß was; dies alles untereinander weiß er in einem Meere angelernter Phra- ſen und Worte auszudrücken, plätſchert darin herum, es ſind eben ſo viele Wellen; taucht unter, ſteigt wieder hinauf; ſie tragen ihn, und ſo findet er ſich gehoben von Ausdrücken, von Zeichen! Alles dies fällt mir nur bei ihm wieder ein; und ich zeichne es mir wirklich auf, weil ich die — dafür gehal- tene — gute Erziehung ordentlich für affadirend halte. Es iſt grade ſo, als wäre ſolche Bildung zu Kaufe: ſo bekommt jetzt jeder um ein Billiges ſeinen Vorrath von Bildung mit, aus den Schulen, den Häuſern, den Büchern, den Theeſtuben; die Induſtrie des Erfindens wird ihm durch den großen Über- fluß ganz unmöglich gemacht. Und ein doppelter Frager, ein doppelter Antworter muß jetzt in einem Kopfe ſitzen, wenn er nur auf den Gedanken kommen ſoll, ſich Rechenſchaft über den Scheinreichthum zu fordern, womit er allenthalben durch- kommt. Kunſt, Religion u. dgl. ſind die Louisd’or; Menſch-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/472
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/472>, abgerufen am 30.12.2024.