aus der Erde, dem dunklen Mutterschoße; Josephinen aber neckte es: "Sieh! so hoch kann ich, ohne daß er sich regen mag, wie einen Ball den Menschen werfen; tief kann ich ihn hinabrollen!" Und ihrer Kinder rasendes Glück, der Gipfel ihres Stolzes, die empfindlichste Freude, wird ihr unheilbar- stes Weh, ihr grimmigstes Leid! -- Selbst nichts zu sein, er- trägt sich, für Freiheit, und für den Gedanken: du warst's. Aber seine angehörigen Lieben gleichsam angeführt zu haben durch den Glauben an sein eigen Glück; sie von diesem, und seinen ewigen Dienern, den Menschen, haben schmeichlen lassen; und die sich feig und nur nach dem Hunger gewandt zurück- ziehen sehen, seine Lieben allein und beschämt, dem Troste un- zugänglich! Da bleibt die Wunde frisch; der Schlag, die Be- täubung vor dem wahren Tod!
Den 2. Januar 1810.
Die jetzige Gestalt der Religion ist ein beinah zufälliger Moment in der Entwickelung des menschlichen Gemüths; und gehört mit zu seinen Krankheiten. Sie hält zu lange an; und wird zu lange angehalten. Beides thut großen Schaden. Besonders ist es jetzt schon närrisch, da dieses unbewußte An halten mit eigensinnigem, leeren Bewußtsein vollführt wird, und, wo Bewußtsein eintreten sollte, wirkliche bewußtlose Starrheit wie eine Krankheit zu heilen vor uns steht. Ich will hierüber nicht weitläufiger sein. --
aus der Erde, dem dunklen Mutterſchoße; Joſephinen aber neckte es: „Sieh! ſo hoch kann ich, ohne daß er ſich regen mag, wie einen Ball den Menſchen werfen; tief kann ich ihn hinabrollen!“ Und ihrer Kinder raſendes Glück, der Gipfel ihres Stolzes, die empfindlichſte Freude, wird ihr unheilbar- ſtes Weh, ihr grimmigſtes Leid! — Selbſt nichts zu ſein, er- trägt ſich, für Freiheit, und für den Gedanken: du warſt’s. Aber ſeine angehörigen Lieben gleichſam angeführt zu haben durch den Glauben an ſein eigen Glück; ſie von dieſem, und ſeinen ewigen Dienern, den Menſchen, haben ſchmeichlen laſſen; und die ſich feig und nur nach dem Hunger gewandt zurück- ziehen ſehen, ſeine Lieben allein und beſchämt, dem Troſte un- zugänglich! Da bleibt die Wunde friſch; der Schlag, die Be- täubung vor dem wahren Tod!
Den 2. Januar 1810.
Die jetzige Geſtalt der Religion iſt ein beinah zufälliger Moment in der Entwickelung des menſchlichen Gemüths; und gehört mit zu ſeinen Krankheiten. Sie hält zu lange an; und wird zu lange angehalten. Beides thut großen Schaden. Beſonders iſt es jetzt ſchon närriſch, da dieſes unbewußte An halten mit eigenſinnigem, leeren Bewußtſein vollführt wird, und, wo Bewußtſein eintreten ſollte, wirkliche bewußtloſe Starrheit wie eine Krankheit zu heilen vor uns ſteht. Ich will hierüber nicht weitläufiger ſein. —
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aus der Erde, dem dunklen Mutterſchoße; Joſephinen aber
neckte es: „Sieh! ſo hoch kann ich, ohne daß er ſich regen
mag, wie einen Ball den Menſchen werfen; tief kann ich ihn
hinabrollen!“ Und ihrer Kinder raſendes Glück, der Gipfel
ihres Stolzes, die empfindlichſte Freude, wird ihr unheilbar-
ſtes Weh, ihr grimmigſtes Leid! — Selbſt nichts zu ſein, er-
trägt ſich, für Freiheit, und für den Gedanken: du warſt’s.
Aber ſeine angehörigen Lieben gleichſam angeführt zu haben
durch den Glauben an ſein eigen Glück; ſie von dieſem, und
ſeinen ewigen Dienern, den Menſchen, haben ſchmeichlen laſſen;
und die ſich feig und nur nach dem Hunger gewandt zurück-
ziehen ſehen, ſeine Lieben allein und beſchämt, dem Troſte un-
zugänglich! Da bleibt die Wunde friſch; der Schlag, die Be-
täubung vor dem wahren Tod!
Den 2. Januar 1810.
Die jetzige Geſtalt der Religion iſt ein beinah zufälliger
Moment in der Entwickelung des menſchlichen Gemüths; und
gehört mit zu ſeinen Krankheiten. Sie hält zu lange an;
und wird zu lange angehalten. Beides thut großen Schaden.
Beſonders iſt es jetzt ſchon närriſch, da dieſes unbewußte An
halten mit eigenſinnigem, leeren Bewußtſein vollführt wird,
und, wo Bewußtſein eintreten ſollte, wirkliche bewußtloſe
Starrheit wie eine Krankheit zu heilen vor uns ſteht. Ich
will hierüber nicht weitläufiger ſein. —
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/471>, abgerufen am 20.11.2024.
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