Hübsches haben Viele. Und bis Sie den Halbgott finden, bis es wie eine Erscheinung vor Ihnen steht, lieben Sie Ein- zelnes in Einzelnen; und beweinen Sie niemand ohne Zer- streuung: man vergißt sie, wenn man sich des Andenkens nicht stolz erfreut. Selten stand der vor Ihnen, der nicht zu ersetzen wäre; und ein solcher ist ewiger Gewinn, und wäre er todt. Das weiß ich an Louis und Gualtieri. Adieu. Auch ich schwatze. Der Wind wird sich wohl legen. Ich will Sie heute sehen.
An Varnhagen, in Berlin.
Verlin, den 22. Juli 1808.
Du hast keine Vorstellung davon, mit welchem Schreck ich erwache! Eine hemmende Überlegung, die selbst nie zu Ende kommt, drückt mir das Herz zu, und wie zurück. So blieb ich wie unentschlossen im Bette liegen; wie unentschlos- sen; denn wußt' ich nicht eben zu gut wie alles ist, und daß nichts zu beschließen ist? Es wurde mir alles zur Angst. Ich dachte, ich wolle es dir schreiben, und nahm den Band Goethe in die Hand, und ging herunter. Da lag er neben mir, und ich wie verzweifelt neben ihm! -- Ein Fest war sonst ein neuer Band Goethe bei mir; ein lieblicher, herrlicher, ge- liebter, geehrter Gast, der mir neue Lebenspforten zu neuem, unbekannten, hellen Leben gewiß erschloß. Durch all mein Leben begleitete der Dichter mich unfehlbar, und kräftig und gesund brachte der mir zusammen, was ich, Unglück und Glück zersplitterten, und ich nicht sichtlich zusammenzuhalten
Hübſches haben Viele. Und bis Sie den Halbgott finden, bis es wie eine Erſcheinung vor Ihnen ſteht, lieben Sie Ein- zelnes in Einzelnen; und beweinen Sie niemand ohne Zer- ſtreuung: man vergißt ſie, wenn man ſich des Andenkens nicht ſtolz erfreut. Selten ſtand der vor Ihnen, der nicht zu erſetzen wäre; und ein ſolcher iſt ewiger Gewinn, und wäre er todt. Das weiß ich an Louis und Gualtieri. Adieu. Auch ich ſchwatze. Der Wind wird ſich wohl legen. Ich will Sie heute ſehen.
An Varnhagen, in Berlin.
Verlin, den 22. Juli 1808.
Du haſt keine Vorſtellung davon, mit welchem Schreck ich erwache! Eine hemmende Überlegung, die ſelbſt nie zu Ende kommt, drückt mir das Herz zu, und wie zurück. So blieb ich wie unentſchloſſen im Bette liegen; wie unentſchloſ- ſen; denn wußt’ ich nicht eben zu gut wie alles iſt, und daß nichts zu beſchließen iſt? Es wurde mir alles zur Angſt. Ich dachte, ich wolle es dir ſchreiben, und nahm den Band Goethe in die Hand, und ging herunter. Da lag er neben mir, und ich wie verzweifelt neben ihm! — Ein Feſt war ſonſt ein neuer Band Goethe bei mir; ein lieblicher, herrlicher, ge- liebter, geehrter Gaſt, der mir neue Lebenspforten zu neuem, unbekannten, hellen Leben gewiß erſchloß. Durch all mein Leben begleitete der Dichter mich unfehlbar, und kräftig und geſund brachte der mir zuſammen, was ich, Unglück und Glück zerſplitterten, und ich nicht ſichtlich zuſammenzuhalten
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0352"n="338"/>
Hübſches haben Viele. Und bis Sie den Halbgott finden,<lb/>
bis es wie eine Erſcheinung vor Ihnen ſteht, lieben Sie Ein-<lb/>
zelnes in Einzelnen; und beweinen Sie niemand ohne Zer-<lb/>ſtreuung: man vergißt ſie, wenn man ſich des Andenkens<lb/>
nicht ſtolz erfreut. Selten ſtand der vor Ihnen, der nicht zu<lb/>
erſetzen wäre; und ein ſolcher iſt ewiger Gewinn, und wäre<lb/>
er <hirendition="#g">todt</hi>. Das weiß ich an Louis und Gualtieri. Adieu.<lb/>
Auch ich ſchwatze. Der Wind wird ſich wohl legen. Ich will<lb/>
Sie heute ſehen.</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="2"><head>An Varnhagen, in Berlin.</head><lb/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Verlin, den 22. Juli 1808.</hi></dateline><lb/><p>Du haſt keine Vorſtellung davon, mit welchem Schreck<lb/>
ich erwache! Eine hemmende Überlegung, die ſelbſt nie zu<lb/>
Ende kommt, drückt mir das Herz zu, und wie zurück. So<lb/>
blieb ich wie unentſchloſſen im Bette liegen; wie unentſchloſ-<lb/>ſen; denn wußt’ ich nicht eben zu gut wie alles iſt, und daß<lb/>
nichts zu beſchließen iſt? Es wurde mir alles zur Angſt. Ich<lb/>
dachte, ich wolle es dir ſchreiben, und nahm den Band Goethe<lb/>
in die Hand, und ging herunter. Da lag er neben mir, und<lb/>
ich wie verzweifelt neben ihm! — Ein Feſt war ſonſt ein<lb/>
neuer Band <hirendition="#g">Goethe</hi> bei mir; ein lieblicher, herrlicher, ge-<lb/>
liebter, geehrter Gaſt, der mir neue Lebenspforten zu neuem,<lb/>
unbekannten, hellen Leben gewiß erſchloß. Durch all mein<lb/>
Leben begleitete der Dichter mich unfehlbar, und kräftig und<lb/>
geſund brachte der mir zuſammen, was ich, Unglück und<lb/>
Glück zerſplitterten, und ich nicht ſichtlich zuſammenzuhalten<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[338/0352]
Hübſches haben Viele. Und bis Sie den Halbgott finden,
bis es wie eine Erſcheinung vor Ihnen ſteht, lieben Sie Ein-
zelnes in Einzelnen; und beweinen Sie niemand ohne Zer-
ſtreuung: man vergißt ſie, wenn man ſich des Andenkens
nicht ſtolz erfreut. Selten ſtand der vor Ihnen, der nicht zu
erſetzen wäre; und ein ſolcher iſt ewiger Gewinn, und wäre
er todt. Das weiß ich an Louis und Gualtieri. Adieu.
Auch ich ſchwatze. Der Wind wird ſich wohl legen. Ich will
Sie heute ſehen.
An Varnhagen, in Berlin.
Verlin, den 22. Juli 1808.
Du haſt keine Vorſtellung davon, mit welchem Schreck
ich erwache! Eine hemmende Überlegung, die ſelbſt nie zu
Ende kommt, drückt mir das Herz zu, und wie zurück. So
blieb ich wie unentſchloſſen im Bette liegen; wie unentſchloſ-
ſen; denn wußt’ ich nicht eben zu gut wie alles iſt, und daß
nichts zu beſchließen iſt? Es wurde mir alles zur Angſt. Ich
dachte, ich wolle es dir ſchreiben, und nahm den Band Goethe
in die Hand, und ging herunter. Da lag er neben mir, und
ich wie verzweifelt neben ihm! — Ein Feſt war ſonſt ein
neuer Band Goethe bei mir; ein lieblicher, herrlicher, ge-
liebter, geehrter Gaſt, der mir neue Lebenspforten zu neuem,
unbekannten, hellen Leben gewiß erſchloß. Durch all mein
Leben begleitete der Dichter mich unfehlbar, und kräftig und
geſund brachte der mir zuſammen, was ich, Unglück und
Glück zerſplitterten, und ich nicht ſichtlich zuſammenzuhalten
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 338. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/352>, abgerufen am 30.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.