-- Sein Sie nicht so ängstlich! Selbst physischen Schmerz halte ich für Verwirrung, in die wir nicht einzudringen ver- mögen: und es ist nicht gleich, ob uns diese das Leid macht, oder etwas andres, weil unser ewig bewegter Geist, unsere Arbeit, unser Schmerz selbst, sie unfehlbar auflösen müssen. Alles kann sich nicht allein ändern, alles ändert sich ganz gewiß; von heut zu morgen, ganz unvermuthet. Die größte Veränderung kommt auch von innen heraus: in uns geht sie vor, und wie plötzlich; wie eine Blume sich erschließt, immer in einem Moment; sieht die Welt auch den Prozeß vorher, jene selbst erathmet Licht nur mit einemmale. Kleinere Vor- fälle aber sind beinahe immer eins, wie sie kommen; und auch selbst muß man sie sich nach geschehener That zurechte legen, und mit Kunst und Gewalt Honig aus ihnen ziehen. Wer vermag die zu berechnen! Ich spreche heute aus voller Seele! denn auch mir ist viel Mißwachs vorgekommen, und nicht ganz von der geringsten Art. Aber den ganzen gehässigen Eindruck, den er mir macht, nehm' ich dazu hin, um mir zu sagen und zu zeigen, wie ich mir nichts mehr weiß machen lasse, wie jedes Ding nur droht, und weder freut noch schadet, und jedes Ereigniß erst durch die, welche es gebiert, fertig wird, und man die künftigen Geschlechter beider Welten nicht kennt; nicht weiß, neben wem im Gedränge man Tod oder Leben findet! Klarheit im Geiste, reiner und wo möglich star-
An Frau von F., in Berlin.
Berlin, Sommer 1806.
— Sein Sie nicht ſo ängſtlich! Selbſt phyſiſchen Schmerz halte ich für Verwirrung, in die wir nicht einzudringen ver- mögen: und es iſt nicht gleich, ob uns dieſe das Leid macht, oder etwas andres, weil unſer ewig bewegter Geiſt, unſere Arbeit, unſer Schmerz ſelbſt, ſie unfehlbar auflöſen müſſen. Alles kann ſich nicht allein ändern, alles ändert ſich ganz gewiß; von heut zu morgen, ganz unvermuthet. Die größte Veränderung kommt auch von innen heraus: in uns geht ſie vor, und wie plötzlich; wie eine Blume ſich erſchließt, immer in einem Moment; ſieht die Welt auch den Prozeß vorher, jene ſelbſt erathmet Licht nur mit einemmale. Kleinere Vor- fälle aber ſind beinahe immer eins, wie ſie kommen; und auch ſelbſt muß man ſie ſich nach geſchehener That zurechte legen, und mit Kunſt und Gewalt Honig aus ihnen ziehen. Wer vermag die zu berechnen! Ich ſpreche heute aus voller Seele! denn auch mir iſt viel Mißwachs vorgekommen, und nicht ganz von der geringſten Art. Aber den ganzen gehäſſigen Eindruck, den er mir macht, nehm’ ich dazu hin, um mir zu ſagen und zu zeigen, wie ich mir nichts mehr weiß machen laſſe, wie jedes Ding nur droht, und weder freut noch ſchadet, und jedes Ereigniß erſt durch die, welche es gebiert, fertig wird, und man die künftigen Geſchlechter beider Welten nicht kennt; nicht weiß, neben wem im Gedränge man Tod oder Leben findet! Klarheit im Geiſte, reiner und wo möglich ſtar-
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0309"n="295"/><divn="2"><head>An Frau von F., in Berlin.</head><lb/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Berlin, Sommer 1806.</hi></dateline><lb/><p>— Sein Sie nicht ſo ängſtlich! Selbſt phyſiſchen Schmerz<lb/>
halte ich für Verwirrung, in die wir nicht einzudringen ver-<lb/>
mögen: und es iſt nicht gleich, ob uns dieſe das Leid macht,<lb/>
oder etwas andres, weil unſer ewig bewegter Geiſt, unſere<lb/>
Arbeit, unſer Schmerz ſelbſt, ſie unfehlbar auflöſen müſſen.<lb/>
Alles <hirendition="#g">kann</hi>ſich nicht allein ändern, alles ändert ſich <hirendition="#g">ganz<lb/>
gewiß</hi>; von heut zu morgen, ganz unvermuthet. Die größte<lb/>
Veränderung kommt auch von innen heraus: in uns geht ſie<lb/>
vor, und wie plötzlich; wie eine Blume ſich erſchließt, immer<lb/>
in einem Moment; ſieht die Welt auch den Prozeß vorher,<lb/>
jene ſelbſt erathmet Licht nur mit einemmale. Kleinere Vor-<lb/>
fälle aber ſind beinahe immer eins, wie ſie kommen; und <hirendition="#g">auch</hi><lb/>ſelbſt muß man ſie ſich nach geſchehener That zurechte legen,<lb/>
und mit Kunſt und Gewalt Honig aus ihnen ziehen. Wer<lb/>
vermag die zu berechnen! Ich ſpreche heute aus voller Seele!<lb/>
denn auch mir iſt viel Mißwachs vorgekommen, und nicht<lb/>
ganz von der geringſten Art. Aber den ganzen gehäſſigen<lb/>
Eindruck, den er mir macht, nehm’ ich dazu hin, um mir zu<lb/>ſagen und zu zeigen, wie ich mir nichts mehr weiß machen<lb/>
laſſe, wie jedes Ding nur droht, und weder freut noch ſchadet,<lb/>
und jedes Ereigniß erſt durch die, welche es gebiert, fertig<lb/>
wird, und man die künftigen Geſchlechter beider Welten nicht<lb/>
kennt; nicht weiß, neben wem im Gedränge man Tod oder<lb/>
Leben findet! Klarheit im Geiſte, reiner und wo möglich ſtar-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[295/0309]
An Frau von F., in Berlin.
Berlin, Sommer 1806.
— Sein Sie nicht ſo ängſtlich! Selbſt phyſiſchen Schmerz
halte ich für Verwirrung, in die wir nicht einzudringen ver-
mögen: und es iſt nicht gleich, ob uns dieſe das Leid macht,
oder etwas andres, weil unſer ewig bewegter Geiſt, unſere
Arbeit, unſer Schmerz ſelbſt, ſie unfehlbar auflöſen müſſen.
Alles kann ſich nicht allein ändern, alles ändert ſich ganz
gewiß; von heut zu morgen, ganz unvermuthet. Die größte
Veränderung kommt auch von innen heraus: in uns geht ſie
vor, und wie plötzlich; wie eine Blume ſich erſchließt, immer
in einem Moment; ſieht die Welt auch den Prozeß vorher,
jene ſelbſt erathmet Licht nur mit einemmale. Kleinere Vor-
fälle aber ſind beinahe immer eins, wie ſie kommen; und auch
ſelbſt muß man ſie ſich nach geſchehener That zurechte legen,
und mit Kunſt und Gewalt Honig aus ihnen ziehen. Wer
vermag die zu berechnen! Ich ſpreche heute aus voller Seele!
denn auch mir iſt viel Mißwachs vorgekommen, und nicht
ganz von der geringſten Art. Aber den ganzen gehäſſigen
Eindruck, den er mir macht, nehm’ ich dazu hin, um mir zu
ſagen und zu zeigen, wie ich mir nichts mehr weiß machen
laſſe, wie jedes Ding nur droht, und weder freut noch ſchadet,
und jedes Ereigniß erſt durch die, welche es gebiert, fertig
wird, und man die künftigen Geſchlechter beider Welten nicht
kennt; nicht weiß, neben wem im Gedränge man Tod oder
Leben findet! Klarheit im Geiſte, reiner und wo möglich ſtar-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/309>, abgerufen am 20.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.