ziehung und seines Familienlebens nie los: und sein Leben war halb lächerlich halb schrecklich anzusehn: für ihn gewiß meist eine innere Angst und Marter, von Mitteln der Eitel- keit zur augenblicklichen Ruhe gebracht: ein schwankender Zu- stand, zu welchem auch Geburt, Schönheit und Geistesgaben ihm wirkten, und alte verderbte Erziehung, die sonst häufiger mit großen Vorstellungen und Achtung der Religion und Sitte zusammenging. Er war ein Exempel ehemaliger ver- kohrter Franzosenwelt und Erziehung. Er genoß alle ihre Vortheile, und erlag ihren tiefen Fehlern. --
1805.
Das Widerspiel zu den vier Eitlen ist T., welche mit Wahrheit in einem Briefe an eine Freundin von sich selbst sagte: "Wenn ich in der Nähe von Fürsten wäre und mit ihnen lebte, würde ich für die niedrigste Schmeichlerin gehal- ten werden! Weil ich jedes Menschen Persönlichkeit umgehe, und bei der größten Meinungsunabhängigkeit nur immer aus allgemeingeltenden Gründen widerspreche, ein solcher Wider- spruch wird gar nicht bemerkt, so sehr er auch wirkt; Beifall und Lab suche ich aber so persönlich zu machen, als möglich. Dieses Verfahren, welches unbegreiflich unbemerkt bleibt, würde bei hohen Personen sehr auffallen. Meine besten Freunde, wenn sie dies lesen, werden mir nicht beipflichten, sondern meinen, ich lobe mich ungeheuer aus Vorliebe; ich aber bin überzeugt, daß dies Gesagte die strengste, in jedem Tage zu erprobende Wahrheit ist, und bin gar nicht beschämt."
ziehung und ſeines Familienlebens nie los: und ſein Leben war halb lächerlich halb ſchrecklich anzuſehn: für ihn gewiß meiſt eine innere Angſt und Marter, von Mitteln der Eitel- keit zur augenblicklichen Ruhe gebracht: ein ſchwankender Zu- ſtand, zu welchem auch Geburt, Schönheit und Geiſtesgaben ihm wirkten, und alte verderbte Erziehung, die ſonſt häufiger mit großen Vorſtellungen und Achtung der Religion und Sitte zuſammenging. Er war ein Exempel ehemaliger ver- kohrter Franzoſenwelt und Erziehung. Er genoß alle ihre Vortheile, und erlag ihren tiefen Fehlern. —
1805.
Das Widerſpiel zu den vier Eitlen iſt T., welche mit Wahrheit in einem Briefe an eine Freundin von ſich ſelbſt ſagte: „Wenn ich in der Nähe von Fürſten wäre und mit ihnen lebte, würde ich für die niedrigſte Schmeichlerin gehal- ten werden! Weil ich jedes Menſchen Perſönlichkeit umgehe, und bei der größten Meinungsunabhängigkeit nur immer aus allgemeingeltenden Gründen widerſpreche, ein ſolcher Wider- ſpruch wird gar nicht bemerkt, ſo ſehr er auch wirkt; Beifall und Lab ſuche ich aber ſo perſönlich zu machen, als möglich. Dieſes Verfahren, welches unbegreiflich unbemerkt bleibt, würde bei hohen Perſonen ſehr auffallen. Meine beſten Freunde, wenn ſie dies leſen, werden mir nicht beipflichten, ſondern meinen, ich lobe mich ungeheuer aus Vorliebe; ich aber bin überzeugt, daß dies Geſagte die ſtrengſte, in jedem Tage zu erprobende Wahrheit iſt, und bin gar nicht beſchämt.“
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0292"n="278"/>
ziehung und ſeines Familienlebens nie los: und ſein Leben<lb/>
war halb lächerlich halb ſchrecklich anzuſehn: für ihn gewiß<lb/>
meiſt eine innere Angſt und Marter, von Mitteln der Eitel-<lb/>
keit zur augenblicklichen Ruhe gebracht: ein ſchwankender Zu-<lb/>ſtand, zu welchem auch Geburt, Schönheit und Geiſtesgaben<lb/>
ihm wirkten, und alte verderbte Erziehung, die ſonſt häufiger<lb/>
mit großen Vorſtellungen und Achtung der Religion und<lb/>
Sitte zuſammenging. Er war ein Exempel ehemaliger ver-<lb/>
kohrter Franzoſenwelt und Erziehung. Er genoß alle ihre<lb/>
Vortheile, und erlag ihren tiefen Fehlern. —</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">1805.</hi></dateline><lb/><p>Das Widerſpiel zu den vier Eitlen iſt T., welche mit<lb/>
Wahrheit in einem Briefe an eine Freundin von ſich ſelbſt<lb/>ſagte: „Wenn ich in der Nähe von Fürſten wäre und mit<lb/>
ihnen lebte, würde ich für die niedrigſte Schmeichlerin gehal-<lb/>
ten werden! Weil ich jedes Menſchen Perſönlichkeit umgehe,<lb/>
und bei der größten Meinungsunabhängigkeit nur immer aus<lb/>
allgemeingeltenden Gründen widerſpreche, ein ſolcher Wider-<lb/>ſpruch wird gar nicht bemerkt, ſo ſehr er auch wirkt; Beifall<lb/>
und Lab ſuche ich aber ſo perſönlich zu machen, als möglich.<lb/>
Dieſes Verfahren, welches unbegreiflich unbemerkt bleibt, würde<lb/>
bei hohen Perſonen ſehr auffallen. Meine beſten Freunde,<lb/>
wenn ſie dies leſen, werden mir nicht beipflichten, ſondern<lb/>
meinen, ich lobe mich ungeheuer aus Vorliebe; ich aber bin<lb/>
überzeugt, daß dies Geſagte die ſtrengſte, in jedem Tage zu<lb/>
erprobende Wahrheit iſt, und bin gar nicht beſchämt.“</p></div></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div></body></text></TEI>
[278/0292]
ziehung und ſeines Familienlebens nie los: und ſein Leben
war halb lächerlich halb ſchrecklich anzuſehn: für ihn gewiß
meiſt eine innere Angſt und Marter, von Mitteln der Eitel-
keit zur augenblicklichen Ruhe gebracht: ein ſchwankender Zu-
ſtand, zu welchem auch Geburt, Schönheit und Geiſtesgaben
ihm wirkten, und alte verderbte Erziehung, die ſonſt häufiger
mit großen Vorſtellungen und Achtung der Religion und
Sitte zuſammenging. Er war ein Exempel ehemaliger ver-
kohrter Franzoſenwelt und Erziehung. Er genoß alle ihre
Vortheile, und erlag ihren tiefen Fehlern. —
1805.
Das Widerſpiel zu den vier Eitlen iſt T., welche mit
Wahrheit in einem Briefe an eine Freundin von ſich ſelbſt
ſagte: „Wenn ich in der Nähe von Fürſten wäre und mit
ihnen lebte, würde ich für die niedrigſte Schmeichlerin gehal-
ten werden! Weil ich jedes Menſchen Perſönlichkeit umgehe,
und bei der größten Meinungsunabhängigkeit nur immer aus
allgemeingeltenden Gründen widerſpreche, ein ſolcher Wider-
ſpruch wird gar nicht bemerkt, ſo ſehr er auch wirkt; Beifall
und Lab ſuche ich aber ſo perſönlich zu machen, als möglich.
Dieſes Verfahren, welches unbegreiflich unbemerkt bleibt, würde
bei hohen Perſonen ſehr auffallen. Meine beſten Freunde,
wenn ſie dies leſen, werden mir nicht beipflichten, ſondern
meinen, ich lobe mich ungeheuer aus Vorliebe; ich aber bin
überzeugt, daß dies Geſagte die ſtrengſte, in jedem Tage zu
erprobende Wahrheit iſt, und bin gar nicht beſchämt.“
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/292>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.