Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

auch Geschichtschreiber. Geschichtschreibung ist Krieg mit
der Gemeinheit der Meinungen der Gegenwart, Dich¬
tung ist ihre Veredlung. Wer Dichtung und Wahrheit
nur in Widerstreit sieht, kennt weder Dichtung noch

Wahrheit.

21. Sprachmeisterei.

Wenn kümmerliche Schriftgelehrte unsren schöpferi¬
schen Geistern ihre bewußten Kühnheiten und Neuerun¬
gen in Sprache und Verskunst als ungeschickte Verstöße
gegen die Regel oder unerlaubte Erdreistungen vorhal¬
ten, so ist dies nicht besser, als wenn Diener und
Aufseher in die ihnen verbotenen Gemächer nun auch
ihre gebietenden Herren und Meister nicht einlassen
wollten!

22. Deutschthum, wahres.

Die Aufgabe, welche Goethe'n gestellt war, um das
zu werden, was er geworden, war größer und schwie¬
riger, als die dem Cervantes oder Shakspeare beschie¬
dene. Alle drei sind Schriftsteller, in welchen und um
welche das geistige Leben ihrer Nation sich versammelte.
Aber die Bildung der deutschen Nation ist nicht so
einfach und offen zu erfassen, nicht so alleinherrschend
und abgemessen zu verwalten, wie die Bildung der
spanischen oder englischen es erlaubte. Umfaßt nicht
nur und verwaltet, auch gesteigert mußte diese Bildung
von dem Dichter werden, wenn er ein Licht der Ge¬

22 *

auch Geſchichtſchreiber. Geſchichtſchreibung iſt Krieg mit
der Gemeinheit der Meinungen der Gegenwart, Dich¬
tung iſt ihre Veredlung. Wer Dichtung und Wahrheit
nur in Widerſtreit ſieht, kennt weder Dichtung noch

Wahrheit.

21. Sprachmeiſterei.

Wenn kuͤmmerliche Schriftgelehrte unſren ſchoͤpferi¬
ſchen Geiſtern ihre bewußten Kuͤhnheiten und Neuerun¬
gen in Sprache und Verskunſt als ungeſchickte Verſtoͤße
gegen die Regel oder unerlaubte Erdreiſtungen vorhal¬
ten, ſo iſt dies nicht beſſer, als wenn Diener und
Aufſeher in die ihnen verbotenen Gemaͤcher nun auch
ihre gebietenden Herren und Meiſter nicht einlaſſen
wollten!

22. Deutſchthum, wahres.

Die Aufgabe, welche Goethe'n geſtellt war, um das
zu werden, was er geworden, war groͤßer und ſchwie¬
riger, als die dem Cervantes oder Shakſpeare beſchie¬
dene. Alle drei ſind Schriftſteller, in welchen und um
welche das geiſtige Leben ihrer Nation ſich verſammelte.
Aber die Bildung der deutſchen Nation iſt nicht ſo
einfach und offen zu erfaſſen, nicht ſo alleinherrſchend
und abgemeſſen zu verwalten, wie die Bildung der
ſpaniſchen oder engliſchen es erlaubte. Umfaßt nicht
nur und verwaltet, auch geſteigert mußte dieſe Bildung
von dem Dichter werden, wenn er ein Licht der Ge¬

22 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0353" n="339"/>
auch Ge&#x017F;chicht&#x017F;chreiber. Ge&#x017F;chicht&#x017F;chreibung i&#x017F;t Krieg mit<lb/>
der Gemeinheit der Meinungen der Gegenwart, Dich¬<lb/>
tung i&#x017F;t ihre Veredlung. Wer Dichtung und Wahrheit<lb/>
nur in Wider&#x017F;treit &#x017F;ieht, kennt weder Dichtung noch</p><lb/>
            <p>Wahrheit.</p><lb/>
          </div>
          <div n="3">
            <head>21. <hi rendition="#g">Sprachmei&#x017F;terei.</hi><lb/></head>
            <p>Wenn ku&#x0364;mmerliche Schriftgelehrte un&#x017F;ren &#x017F;cho&#x0364;pferi¬<lb/>
&#x017F;chen Gei&#x017F;tern ihre bewußten Ku&#x0364;hnheiten und Neuerun¬<lb/>
gen in Sprache und Verskun&#x017F;t als unge&#x017F;chickte Ver&#x017F;to&#x0364;ße<lb/>
gegen die Regel oder unerlaubte Erdrei&#x017F;tungen vorhal¬<lb/>
ten, &#x017F;o i&#x017F;t dies nicht be&#x017F;&#x017F;er, als wenn Diener und<lb/>
Auf&#x017F;eher in die <hi rendition="#g">ihnen</hi> verbotenen Gema&#x0364;cher nun auch<lb/>
ihre gebietenden Herren und Mei&#x017F;ter nicht einla&#x017F;&#x017F;en<lb/>
wollten!</p><lb/>
          </div>
          <div n="3">
            <head>22. <hi rendition="#g">Deut&#x017F;chthum, wahres.</hi><lb/></head>
            <p>Die Aufgabe, welche Goethe'n ge&#x017F;tellt war, um das<lb/>
zu werden, was er geworden, war gro&#x0364;ßer und &#x017F;chwie¬<lb/>
riger, als die dem Cervantes oder Shak&#x017F;peare be&#x017F;chie¬<lb/>
dene. Alle drei &#x017F;ind Schrift&#x017F;teller, <hi rendition="#g">in</hi> welchen und <hi rendition="#g">um</hi><lb/>
welche das gei&#x017F;tige Leben ihrer Nation &#x017F;ich ver&#x017F;ammelte.<lb/>
Aber die Bildung der deut&#x017F;chen Nation i&#x017F;t nicht &#x017F;o<lb/>
einfach und offen zu erfa&#x017F;&#x017F;en, nicht &#x017F;o alleinherr&#x017F;chend<lb/>
und abgeme&#x017F;&#x017F;en zu verwalten, wie die Bildung der<lb/>
&#x017F;pani&#x017F;chen oder engli&#x017F;chen es erlaubte. Umfaßt nicht<lb/>
nur und verwaltet, auch ge&#x017F;teigert mußte die&#x017F;e Bildung<lb/>
von dem Dichter werden, wenn er ein Licht der Ge¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#b">22</hi> *<lb/></fw>
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[339/0353] auch Geſchichtſchreiber. Geſchichtſchreibung iſt Krieg mit der Gemeinheit der Meinungen der Gegenwart, Dich¬ tung iſt ihre Veredlung. Wer Dichtung und Wahrheit nur in Widerſtreit ſieht, kennt weder Dichtung noch Wahrheit. 21. Sprachmeiſterei. Wenn kuͤmmerliche Schriftgelehrte unſren ſchoͤpferi¬ ſchen Geiſtern ihre bewußten Kuͤhnheiten und Neuerun¬ gen in Sprache und Verskunſt als ungeſchickte Verſtoͤße gegen die Regel oder unerlaubte Erdreiſtungen vorhal¬ ten, ſo iſt dies nicht beſſer, als wenn Diener und Aufſeher in die ihnen verbotenen Gemaͤcher nun auch ihre gebietenden Herren und Meiſter nicht einlaſſen wollten! 22. Deutſchthum, wahres. Die Aufgabe, welche Goethe'n geſtellt war, um das zu werden, was er geworden, war groͤßer und ſchwie¬ riger, als die dem Cervantes oder Shakſpeare beſchie¬ dene. Alle drei ſind Schriftſteller, in welchen und um welche das geiſtige Leben ihrer Nation ſich verſammelte. Aber die Bildung der deutſchen Nation iſt nicht ſo einfach und offen zu erfaſſen, nicht ſo alleinherrſchend und abgemeſſen zu verwalten, wie die Bildung der ſpaniſchen oder engliſchen es erlaubte. Umfaßt nicht nur und verwaltet, auch geſteigert mußte dieſe Bildung von dem Dichter werden, wenn er ein Licht der Ge¬ 22 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/353
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/353>, abgerufen am 21.12.2024.