Einem Leser der Lehrjahre Wilhelm Meister's fiel es neulich als eine Sonderbarkeit auf, daß die interessan¬ ten Frauen dieses Romans großentheils in Manns¬ kleidern erscheinen. In der That, die liebliche Mariane, gleich im ersten Capitel, zeigt sich uns als junger Officier, den sie eben auf der Bühne dargestellt, und bleibt den übrigen Abend in diesem Costüm. Mignon wird sogar für einen Knaben gehalten, ihrer Kleidung wegen, und wehrt sich lange, diese mit weiblicher zu vertauschen. Die schöne Baronin auf dem Schlosse erscheint als Jägerbursche, späterhin Natalie als Amazone zu Pferd, doch auch halbmännlich, und die wirthschaftliche Therese kann auf ihren Wanderungen durch Feld und Wald der Männertracht gar nicht entbehren. Diese Sonderbar¬ keit, die allerdings eine ist, und bisher noch nicht ange¬ merkt worden, auch sich anderwärts unsers Wissens nicht wiederholt, kommt jedoch weniger auf Rechnung des Dichters, als man etwa glauben möchte. Sie ist
Frauen in Mannskleidern.
Einem Leſer der Lehrjahre Wilhelm Meiſter's fiel es neulich als eine Sonderbarkeit auf, daß die intereſſan¬ ten Frauen dieſes Romans großentheils in Manns¬ kleidern erſcheinen. In der That, die liebliche Mariane, gleich im erſten Capitel, zeigt ſich uns als junger Officier, den ſie eben auf der Buͤhne dargeſtellt, und bleibt den uͤbrigen Abend in dieſem Coſtuͤm. Mignon wird ſogar fuͤr einen Knaben gehalten, ihrer Kleidung wegen, und wehrt ſich lange, dieſe mit weiblicher zu vertauſchen. Die ſchoͤne Baronin auf dem Schloſſe erſcheint als Jaͤgerburſche, ſpaͤterhin Natalie als Amazone zu Pferd, doch auch halbmaͤnnlich, und die wirthſchaftliche Thereſe kann auf ihren Wanderungen durch Feld und Wald der Maͤnnertracht gar nicht entbehren. Dieſe Sonderbar¬ keit, die allerdings eine iſt, und bisher noch nicht ange¬ merkt worden, auch ſich anderwaͤrts unſers Wiſſens nicht wiederholt, kommt jedoch weniger auf Rechnung des Dichters, als man etwa glauben moͤchte. Sie iſt
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Frauen in Mannskleidern.
Einem Leſer der Lehrjahre Wilhelm Meiſter's fiel es
neulich als eine Sonderbarkeit auf, daß die intereſſan¬
ten Frauen dieſes Romans großentheils in Manns¬
kleidern erſcheinen. In der That, die liebliche Mariane,
gleich im erſten Capitel, zeigt ſich uns als junger Officier,
den ſie eben auf der Buͤhne dargeſtellt, und bleibt den
uͤbrigen Abend in dieſem Coſtuͤm. Mignon wird ſogar
fuͤr einen Knaben gehalten, ihrer Kleidung wegen, und
wehrt ſich lange, dieſe mit weiblicher zu vertauſchen.
Die ſchoͤne Baronin auf dem Schloſſe erſcheint als
Jaͤgerburſche, ſpaͤterhin Natalie als Amazone zu Pferd,
doch auch halbmaͤnnlich, und die wirthſchaftliche Thereſe
kann auf ihren Wanderungen durch Feld und Wald der
Maͤnnertracht gar nicht entbehren. Dieſe Sonderbar¬
keit, die allerdings eine iſt, und bisher noch nicht ange¬
merkt worden, auch ſich anderwaͤrts unſers Wiſſens
nicht wiederholt, kommt jedoch weniger auf Rechnung
des Dichters, als man etwa glauben moͤchte. Sie iſt
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. [503]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/517>, abgerufen am 21.11.2024.
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