Wachsenden Tagesdruck misset Erdenblick schnell; doch eben so stirbt er auch hin! Dämmernden Fern¬ schutz erspäht Vernunftblick allgemach; aber lebt ewig! Diesen quält Ungeduld nie; bloß jenen stets: unserm Fernrohr entnebelt Weisheit ein Ziel, reicht mühselger Forschweg die Mittel; drum scheint ihm nichts frech: nur Tageshand soll büßen für Einzelthat, gleichviel wie hoch strebend. Will Tagesrolle dennoch entscheiden vor¬ weg; nicht minder untrüglich, unerbittlich alsbald, wie Ferngeschick einst; raubt heut schon deine Sünderhand oben zögerndes Rachschwert, o dann verhängt in dir ein Gott, vollstreckt hienieden ein Verbrecher.
Ein Gericht, drei Fragen.
"Den Meuchelstahl zückt heut auch Biedersinn? ... wo noch herrscht der Stimmen fortan wohl mehr als Eine!"
-- Nur Eine über Thatschuld; so wills des Rech¬ tes Urgrund, Buchstabe, Nothdrang.
"Und Thäter?"
-- Gesetz ergreife, richt' und vernicht' ihn; sein Wahn scheuche Jugend; den furchtbar Hastigen beweine, wer Thränen kennt; gebuhlt um sein Herz hätte selbst ... der Opfergreis.
"Allein des Sünders Nachlohn?"
Eremita Pariſienſis:
Des Freiſinns Verzücktheit.
Wachſenden Tagesdruck miſſet Erdenblick ſchnell; doch eben ſo ſtirbt er auch hin! Daͤmmernden Fern¬ ſchutz erſpaͤht Vernunftblick allgemach; aber lebt ewig! Dieſen quaͤlt Ungeduld nie; bloß jenen ſtets: unſerm Fernrohr entnebelt Weisheit ein Ziel, reicht muͤhſelger Forſchweg die Mittel; drum ſcheint ihm nichts frech: nur Tageshand ſoll buͤßen fuͤr Einzelthat, gleichviel wie hoch ſtrebend. Will Tagesrolle dennoch entſcheiden vor¬ weg; nicht minder untruͤglich, unerbittlich alsbald, wie Ferngeſchick einſt; raubt heut ſchon deine Suͤnderhand oben zoͤgerndes Rachſchwert, o dann verhaͤngt in dir ein Gott, vollſtreckt hienieden ein Verbrecher.
Ein Gericht, drei Fragen.
„Den Meuchelſtahl zuͤckt heut auch Biederſinn? ... wo noch herrſcht der Stimmen fortan wohl mehr als Eine!“
— Nur Eine uͤber Thatſchuld; ſo wills des Rech¬ tes Urgrund, Buchſtabe, Nothdrang.
„Und Thaͤter?“
— Geſetz ergreife, richt' und vernicht' ihn; ſein Wahn ſcheuche Jugend; den furchtbar Haſtigen beweine, wer Thraͤnen kennt; gebuhlt um ſein Herz haͤtte ſelbſt ... der Opfergreis.
„Allein des Suͤnders Nachlohn?“
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><pbfacs="#f0192"n="178"/></div><divn="5"><head><hirendition="#g">Eremita Pariſienſis:</hi><lb/></head><prendition="#c"><hirendition="#g">Des Freiſinns Verzücktheit.</hi></p><lb/><p>Wachſenden Tagesdruck miſſet Erdenblick ſchnell;<lb/>
doch eben ſo ſtirbt er auch hin! Daͤmmernden Fern¬<lb/>ſchutz erſpaͤht Vernunftblick allgemach; aber lebt ewig!<lb/>
Dieſen quaͤlt Ungeduld nie; bloß jenen ſtets: unſerm<lb/>
Fernrohr entnebelt Weisheit ein Ziel, reicht muͤhſelger<lb/>
Forſchweg die Mittel; drum ſcheint ihm nichts frech:<lb/>
nur Tageshand ſoll buͤßen fuͤr Einzelthat, gleichviel wie<lb/>
hoch ſtrebend. Will Tagesrolle dennoch entſcheiden vor¬<lb/>
weg; nicht minder untruͤglich, unerbittlich alsbald, wie<lb/>
Ferngeſchick einſt; raubt heut ſchon deine Suͤnderhand<lb/>
oben zoͤgerndes Rachſchwert, o dann verhaͤngt in dir<lb/>
ein Gott, vollſtreckt hienieden ein Verbrecher.</p><lb/><prendition="#c"><hirendition="#g">Ein Gericht, drei Fragen.</hi></p><lb/><p>„Den Meuchelſtahl zuͤckt heut auch Biederſinn?<lb/>
... wo noch herrſcht der Stimmen fortan wohl mehr<lb/>
als Eine!“</p><lb/><p>— Nur Eine uͤber Thatſchuld; ſo wills des Rech¬<lb/>
tes Urgrund, Buchſtabe, Nothdrang.</p><lb/><p>„Und Thaͤter?“</p><lb/><p>— Geſetz ergreife, richt' und vernicht' ihn; ſein<lb/>
Wahn ſcheuche Jugend; den furchtbar Haſtigen beweine,<lb/>
wer Thraͤnen kennt; gebuhlt um ſein Herz haͤtte ſelbſt<lb/>
... der Opfergreis.</p><lb/><p>„Allein des Suͤnders Nachlohn?“</p><lb/></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[178/0192]
Eremita Pariſienſis:
Des Freiſinns Verzücktheit.
Wachſenden Tagesdruck miſſet Erdenblick ſchnell;
doch eben ſo ſtirbt er auch hin! Daͤmmernden Fern¬
ſchutz erſpaͤht Vernunftblick allgemach; aber lebt ewig!
Dieſen quaͤlt Ungeduld nie; bloß jenen ſtets: unſerm
Fernrohr entnebelt Weisheit ein Ziel, reicht muͤhſelger
Forſchweg die Mittel; drum ſcheint ihm nichts frech:
nur Tageshand ſoll buͤßen fuͤr Einzelthat, gleichviel wie
hoch ſtrebend. Will Tagesrolle dennoch entſcheiden vor¬
weg; nicht minder untruͤglich, unerbittlich alsbald, wie
Ferngeſchick einſt; raubt heut ſchon deine Suͤnderhand
oben zoͤgerndes Rachſchwert, o dann verhaͤngt in dir
ein Gott, vollſtreckt hienieden ein Verbrecher.
Ein Gericht, drei Fragen.
„Den Meuchelſtahl zuͤckt heut auch Biederſinn?
... wo noch herrſcht der Stimmen fortan wohl mehr
als Eine!“
— Nur Eine uͤber Thatſchuld; ſo wills des Rech¬
tes Urgrund, Buchſtabe, Nothdrang.
„Und Thaͤter?“
— Geſetz ergreife, richt' und vernicht' ihn; ſein
Wahn ſcheuche Jugend; den furchtbar Haſtigen beweine,
wer Thraͤnen kennt; gebuhlt um ſein Herz haͤtte ſelbſt
... der Opfergreis.
„Allein des Suͤnders Nachlohn?“
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/192>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.