Hierdurch werden alle ihre Seelenwirkungen zugleich auf sinnliche Weise bestimmet, und in so fern können auch zu- weilen die Nervenkräfte der äußern sinnlichen Eindrücke dieselben einigermaßen, doch immer sehr unvollständig er- setzen. Wenn die äußere Empfindung einer Musik unsern Trieb zum Tanzen rege machet, so vereiniget sich mit die- sem Triebe die Begierde des Willens, einen regelmäßigen Tanz zu machen, und wir befriedigen dieselbe, indem wir ihn tanzen. So weit als diese freywillige Handlung eine Seelenwirkung des Triebes ist, kann sie auch eine bloße Nervenwirkung andrer sinnlicher Eindrücke seyn: denn die St. Veitstänzer tanzen wider ihren Willen, auch ohne Trieb, sogar schlafend, blos convulsivisch: aber freylich nicht regelmäßig: denn dieß letzte ist die Seelenwirkung der Befriedigung des Willens.
§. 579.
Aus Allem, was bisher dargethan worden, erhellet demnach, daß es mit der Ersetzung der Seelenwirkungen durch Nervenwirkungen in den thierischen Körpern folgen- de Bewandtniß habe. Alle thierische Bewegungen, die Seelenwirkungen seyn können, können einzeln und an sich auch durch die Nervenkräfte sinnlicher Eindrücke allein oder zugleich als Nervenwirkungen hervorgebracht werden, §. 503. und so weit Beobachtungen und Versuche die Unter- suchung erlauben, bestätiget dieß auch die Erfahrung ohne Ausnahme. Betrachtet man aber die Seelenwirkungen in Absicht auf ihre wirkende Ursache, nämlich die Vorstel- lungen der Seele und auf den Zusammenhang der Ord- nung, in welcher sie sich entwickeln und aufeinander folgen, so hat man zweyerley Arten derselben zu unterscheiden.
1. Einige Vorstellungen, nämlich die sinnlichen, wer- den der Seele durch äußere sinnliche Eindrücke in die Ner- ven auf eine natürlich nothwendige Weise beygebracht, §. 65. 66. und folgen und entwickeln sich in ihr durch ihre Vorstellungskraft nur so, wie diese äußern sinnlichen Ein-
drücke
O o 4
1 Abſchn. Erſetz. der Seelenw. durch Nervenw.
Hierdurch werden alle ihre Seelenwirkungen zugleich auf ſinnliche Weiſe beſtimmet, und in ſo fern koͤnnen auch zu- weilen die Nervenkraͤfte der aͤußern ſinnlichen Eindruͤcke dieſelben einigermaßen, doch immer ſehr unvollſtaͤndig er- ſetzen. Wenn die aͤußere Empfindung einer Muſik unſern Trieb zum Tanzen rege machet, ſo vereiniget ſich mit die- ſem Triebe die Begierde des Willens, einen regelmaͤßigen Tanz zu machen, und wir befriedigen dieſelbe, indem wir ihn tanzen. So weit als dieſe freywillige Handlung eine Seelenwirkung des Triebes iſt, kann ſie auch eine bloße Nervenwirkung andrer ſinnlicher Eindruͤcke ſeyn: denn die St. Veitstaͤnzer tanzen wider ihren Willen, auch ohne Trieb, ſogar ſchlafend, blos convulſiviſch: aber freylich nicht regelmaͤßig: denn dieß letzte iſt die Seelenwirkung der Befriedigung des Willens.
§. 579.
Aus Allem, was bisher dargethan worden, erhellet demnach, daß es mit der Erſetzung der Seelenwirkungen durch Nervenwirkungen in den thieriſchen Koͤrpern folgen- de Bewandtniß habe. Alle thieriſche Bewegungen, die Seelenwirkungen ſeyn koͤnnen, koͤnnen einzeln und an ſich auch durch die Nervenkraͤfte ſinnlicher Eindruͤcke allein oder zugleich als Nervenwirkungen hervorgebracht werden, §. 503. und ſo weit Beobachtungen und Verſuche die Unter- ſuchung erlauben, beſtaͤtiget dieß auch die Erfahrung ohne Ausnahme. Betrachtet man aber die Seelenwirkungen in Abſicht auf ihre wirkende Urſache, naͤmlich die Vorſtel- lungen der Seele und auf den Zuſammenhang der Ord- nung, in welcher ſie ſich entwickeln und aufeinander folgen, ſo hat man zweyerley Arten derſelben zu unterſcheiden.
1. Einige Vorſtellungen, naͤmlich die ſinnlichen, wer- den der Seele durch aͤußere ſinnliche Eindruͤcke in die Ner- ven auf eine natuͤrlich nothwendige Weiſe beygebracht, §. 65. 66. und folgen und entwickeln ſich in ihr durch ihre Vorſtellungskraft nur ſo, wie dieſe aͤußern ſinnlichen Ein-
druͤcke
O o 4
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0607"n="583"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">1 Abſchn. Erſetz. der Seelenw. durch Nervenw.</hi></fw><lb/>
Hierdurch werden alle ihre Seelenwirkungen zugleich auf<lb/>ſinnliche Weiſe beſtimmet, und in ſo fern koͤnnen auch zu-<lb/>
weilen die Nervenkraͤfte der aͤußern ſinnlichen Eindruͤcke<lb/>
dieſelben einigermaßen, doch immer ſehr unvollſtaͤndig er-<lb/>ſetzen. Wenn die aͤußere Empfindung einer Muſik unſern<lb/>
Trieb zum Tanzen rege machet, ſo vereiniget ſich mit die-<lb/>ſem Triebe die Begierde des Willens, einen regelmaͤßigen<lb/>
Tanz zu machen, und wir befriedigen dieſelbe, indem wir<lb/>
ihn tanzen. So weit als dieſe freywillige Handlung eine<lb/>
Seelenwirkung des Triebes iſt, kann ſie auch eine bloße<lb/>
Nervenwirkung andrer ſinnlicher Eindruͤcke ſeyn: denn die<lb/>
St. Veitstaͤnzer tanzen wider ihren Willen, auch ohne<lb/>
Trieb, ſogar ſchlafend, blos convulſiviſch: aber freylich<lb/>
nicht regelmaͤßig: denn dieß letzte iſt die Seelenwirkung<lb/>
der Befriedigung des Willens.</p></div><lb/><divn="4"><head>§. 579.</head><lb/><p>Aus Allem, was bisher dargethan worden, erhellet<lb/>
demnach, daß es mit der Erſetzung der Seelenwirkungen<lb/>
durch Nervenwirkungen in den thieriſchen Koͤrpern folgen-<lb/>
de Bewandtniß habe. Alle thieriſche Bewegungen, die<lb/>
Seelenwirkungen ſeyn koͤnnen, koͤnnen einzeln und an ſich<lb/>
auch durch die Nervenkraͤfte ſinnlicher Eindruͤcke allein oder<lb/>
zugleich als Nervenwirkungen hervorgebracht werden, §.<lb/>
503. und ſo weit Beobachtungen und Verſuche die Unter-<lb/>ſuchung erlauben, beſtaͤtiget dieß auch die Erfahrung ohne<lb/>
Ausnahme. Betrachtet man aber die Seelenwirkungen<lb/>
in Abſicht auf ihre wirkende Urſache, naͤmlich die Vorſtel-<lb/>
lungen der Seele und auf den Zuſammenhang der Ord-<lb/>
nung, in welcher ſie ſich entwickeln und aufeinander folgen,<lb/>ſo hat man zweyerley Arten derſelben zu unterſcheiden.</p><lb/><p>1. Einige Vorſtellungen, naͤmlich die ſinnlichen, wer-<lb/>
den der Seele durch aͤußere ſinnliche Eindruͤcke in die Ner-<lb/>
ven auf eine natuͤrlich nothwendige Weiſe beygebracht, §.<lb/>
65. 66. und folgen und entwickeln ſich in ihr durch ihre<lb/>
Vorſtellungskraft nur ſo, wie dieſe aͤußern ſinnlichen Ein-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">O o 4</fw><fwplace="bottom"type="catch">druͤcke</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[583/0607]
1 Abſchn. Erſetz. der Seelenw. durch Nervenw.
Hierdurch werden alle ihre Seelenwirkungen zugleich auf
ſinnliche Weiſe beſtimmet, und in ſo fern koͤnnen auch zu-
weilen die Nervenkraͤfte der aͤußern ſinnlichen Eindruͤcke
dieſelben einigermaßen, doch immer ſehr unvollſtaͤndig er-
ſetzen. Wenn die aͤußere Empfindung einer Muſik unſern
Trieb zum Tanzen rege machet, ſo vereiniget ſich mit die-
ſem Triebe die Begierde des Willens, einen regelmaͤßigen
Tanz zu machen, und wir befriedigen dieſelbe, indem wir
ihn tanzen. So weit als dieſe freywillige Handlung eine
Seelenwirkung des Triebes iſt, kann ſie auch eine bloße
Nervenwirkung andrer ſinnlicher Eindruͤcke ſeyn: denn die
St. Veitstaͤnzer tanzen wider ihren Willen, auch ohne
Trieb, ſogar ſchlafend, blos convulſiviſch: aber freylich
nicht regelmaͤßig: denn dieß letzte iſt die Seelenwirkung
der Befriedigung des Willens.
§. 579.
Aus Allem, was bisher dargethan worden, erhellet
demnach, daß es mit der Erſetzung der Seelenwirkungen
durch Nervenwirkungen in den thieriſchen Koͤrpern folgen-
de Bewandtniß habe. Alle thieriſche Bewegungen, die
Seelenwirkungen ſeyn koͤnnen, koͤnnen einzeln und an ſich
auch durch die Nervenkraͤfte ſinnlicher Eindruͤcke allein oder
zugleich als Nervenwirkungen hervorgebracht werden, §.
503. und ſo weit Beobachtungen und Verſuche die Unter-
ſuchung erlauben, beſtaͤtiget dieß auch die Erfahrung ohne
Ausnahme. Betrachtet man aber die Seelenwirkungen
in Abſicht auf ihre wirkende Urſache, naͤmlich die Vorſtel-
lungen der Seele und auf den Zuſammenhang der Ord-
nung, in welcher ſie ſich entwickeln und aufeinander folgen,
ſo hat man zweyerley Arten derſelben zu unterſcheiden.
1. Einige Vorſtellungen, naͤmlich die ſinnlichen, wer-
den der Seele durch aͤußere ſinnliche Eindruͤcke in die Ner-
ven auf eine natuͤrlich nothwendige Weiſe beygebracht, §.
65. 66. und folgen und entwickeln ſich in ihr durch ihre
Vorſtellungskraft nur ſo, wie dieſe aͤußern ſinnlichen Ein-
druͤcke
O o 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771, S. 583. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/607>, abgerufen am 30.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.