Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

1 Abschn. Ersetz. der Seelenw. durch Nervenw.
werden. §. 552. Wofern je die Angst eine Fliege bewe-
get, um sich zu retten, davon zu fliegen, wenn sie angerüh-
ret wird; so thut bey den Enthaupteten der bloße äußere
sinnliche Eindruck eben die Wirkung. Wenn ein Wolf
durch Hunger raubgierig wird, und um sich zu sättigen,
andre Thiere belauscht, angreift, erwürget und frißt, so
thut es ein abgeschnittenes Stück von einem Polypen ge-
wiß nicht aus Lust zu rauben, noch weil es Hunger empfin-
det. Wenn je eine Biene, aus Nothwehr, mit Rachgier
sticht, so thut es doch ihr abgeschnittener Bauch gewiß nicht
aus Rache. Wenn wollüstige Thiere sich aus Geilheit lo-
cken und begatten, so werden die enthaupteten Grillen und
Schmetterlinge doch wohl nicht aus Geilheit handeln: und
wenn endlich manche Thiere aus Liebe für ihre Nachkom-
menschaft etwas thun, so geschieht es doch gewiß nicht aus
Fürsorge für sie, daß ein enthauptetes Weibchen der
Schmetterlinge seine Eyer eben so behutsam hinleget, als
ein andres. Man sieht also die thierischen Bewegungen,
welche bey manchen Thieren offenbar Seelenwirkungen von
Affektentrieben sind, im Thierreiche auch als bloße Nerven-
wirkungen von einerley äußern sinnlichen Eindrücken erfol-
gen, und da dieß oft bey Thieren wahrgenommen wird,
die doch von Natur bestimmet sind, durch thierische See-
lenkräfte regieret zu werden; so läßt sich leicht erachten, daß
es desto gewisser bey solchen nothdürftighinlänglich gesche-
hen könne, deren Körper von Natur blos mit Nerven-
kräften versehen wären.

§. 563.

Daß die Seelenwirkungen der Leidenschaften durch
innere sinnliche Eindrücke ohne Vorstellungen überhaupt
als Nervenwirkungen ersetzet werden können, daran ist kein
Zweifel, §. 503. Alle Leidenschaften verändern den Um-
lauf, die Bewegung des Herzens, das Athemholen, und
die Lebensbewegungen überhaupt. §. 307. 310. Die in-
nern sinnlichen Eindrücke ohne Vorstellungen thun durch

ihre
N n 2

1 Abſchn. Erſetz. der Seelenw. durch Nervenw.
werden. §. 552. Wofern je die Angſt eine Fliege bewe-
get, um ſich zu retten, davon zu fliegen, wenn ſie angeruͤh-
ret wird; ſo thut bey den Enthaupteten der bloße aͤußere
ſinnliche Eindruck eben die Wirkung. Wenn ein Wolf
durch Hunger raubgierig wird, und um ſich zu ſaͤttigen,
andre Thiere belauſcht, angreift, erwuͤrget und frißt, ſo
thut es ein abgeſchnittenes Stuͤck von einem Polypen ge-
wiß nicht aus Luſt zu rauben, noch weil es Hunger empfin-
det. Wenn je eine Biene, aus Nothwehr, mit Rachgier
ſticht, ſo thut es doch ihr abgeſchnittener Bauch gewiß nicht
aus Rache. Wenn wolluͤſtige Thiere ſich aus Geilheit lo-
cken und begatten, ſo werden die enthaupteten Grillen und
Schmetterlinge doch wohl nicht aus Geilheit handeln: und
wenn endlich manche Thiere aus Liebe fuͤr ihre Nachkom-
menſchaft etwas thun, ſo geſchieht es doch gewiß nicht aus
Fuͤrſorge fuͤr ſie, daß ein enthauptetes Weibchen der
Schmetterlinge ſeine Eyer eben ſo behutſam hinleget, als
ein andres. Man ſieht alſo die thieriſchen Bewegungen,
welche bey manchen Thieren offenbar Seelenwirkungen von
Affektentrieben ſind, im Thierreiche auch als bloße Nerven-
wirkungen von einerley aͤußern ſinnlichen Eindruͤcken erfol-
gen, und da dieß oft bey Thieren wahrgenommen wird,
die doch von Natur beſtimmet ſind, durch thieriſche See-
lenkraͤfte regieret zu werden; ſo laͤßt ſich leicht erachten, daß
es deſto gewiſſer bey ſolchen nothduͤrftighinlaͤnglich geſche-
hen koͤnne, deren Koͤrper von Natur blos mit Nerven-
kraͤften verſehen waͤren.

§. 563.

Daß die Seelenwirkungen der Leidenſchaften durch
innere ſinnliche Eindruͤcke ohne Vorſtellungen uͤberhaupt
als Nervenwirkungen erſetzet werden koͤnnen, daran iſt kein
Zweifel, §. 503. Alle Leidenſchaften veraͤndern den Um-
lauf, die Bewegung des Herzens, das Athemholen, und
die Lebensbewegungen uͤberhaupt. §. 307. 310. Die in-
nern ſinnlichen Eindruͤcke ohne Vorſtellungen thun durch

ihre
N n 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0587" n="563"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">1 Ab&#x017F;chn. Er&#x017F;etz. der Seelenw. durch Nervenw.</hi></fw><lb/>
werden. §. 552. Wofern je die Ang&#x017F;t eine Fliege bewe-<lb/>
get, um &#x017F;ich zu retten, davon zu fliegen, wenn &#x017F;ie angeru&#x0364;h-<lb/>
ret wird; &#x017F;o thut bey den Enthaupteten der bloße a&#x0364;ußere<lb/>
&#x017F;innliche Eindruck eben die Wirkung. Wenn ein Wolf<lb/>
durch Hunger raubgierig wird, und um &#x017F;ich zu &#x017F;a&#x0364;ttigen,<lb/>
andre Thiere belau&#x017F;cht, angreift, erwu&#x0364;rget und frißt, &#x017F;o<lb/>
thut es ein abge&#x017F;chnittenes Stu&#x0364;ck von einem Polypen ge-<lb/>
wiß nicht aus Lu&#x017F;t zu rauben, noch weil es Hunger empfin-<lb/>
det. Wenn je eine Biene, aus Nothwehr, mit Rachgier<lb/>
&#x017F;ticht, &#x017F;o thut es doch ihr abge&#x017F;chnittener Bauch gewiß nicht<lb/>
aus Rache. Wenn wollu&#x0364;&#x017F;tige Thiere &#x017F;ich aus Geilheit lo-<lb/>
cken und begatten, &#x017F;o werden die enthaupteten Grillen und<lb/>
Schmetterlinge doch wohl nicht aus Geilheit handeln: und<lb/>
wenn endlich manche Thiere aus Liebe fu&#x0364;r ihre Nachkom-<lb/>
men&#x017F;chaft etwas thun, &#x017F;o ge&#x017F;chieht es doch gewiß nicht aus<lb/>
Fu&#x0364;r&#x017F;orge fu&#x0364;r &#x017F;ie, daß ein enthauptetes Weibchen der<lb/>
Schmetterlinge &#x017F;eine Eyer eben &#x017F;o behut&#x017F;am hinleget, als<lb/>
ein andres. Man &#x017F;ieht al&#x017F;o die thieri&#x017F;chen Bewegungen,<lb/>
welche bey manchen Thieren offenbar Seelenwirkungen von<lb/>
Affektentrieben &#x017F;ind, im Thierreiche auch als bloße Nerven-<lb/>
wirkungen von einerley a&#x0364;ußern &#x017F;innlichen Eindru&#x0364;cken erfol-<lb/>
gen, und da dieß oft bey Thieren wahrgenommen wird,<lb/>
die doch von Natur be&#x017F;timmet &#x017F;ind, durch thieri&#x017F;che See-<lb/>
lenkra&#x0364;fte regieret zu werden; &#x017F;o la&#x0364;ßt &#x017F;ich leicht erachten, daß<lb/>
es de&#x017F;to gewi&#x017F;&#x017F;er bey &#x017F;olchen nothdu&#x0364;rftighinla&#x0364;nglich ge&#x017F;che-<lb/>
hen ko&#x0364;nne, deren Ko&#x0364;rper von Natur blos mit Nerven-<lb/>
kra&#x0364;ften ver&#x017F;ehen wa&#x0364;ren.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 563.</head><lb/>
              <p>Daß die Seelenwirkungen der <hi rendition="#fr">Leiden&#x017F;chaften</hi> durch<lb/>
innere &#x017F;innliche Eindru&#x0364;cke ohne Vor&#x017F;tellungen u&#x0364;berhaupt<lb/>
als Nervenwirkungen er&#x017F;etzet werden ko&#x0364;nnen, daran i&#x017F;t kein<lb/>
Zweifel, §. 503. Alle Leiden&#x017F;chaften vera&#x0364;ndern den Um-<lb/>
lauf, die Bewegung des Herzens, das Athemholen, und<lb/>
die Lebensbewegungen u&#x0364;berhaupt. §. 307. 310. Die in-<lb/>
nern &#x017F;innlichen Eindru&#x0364;cke ohne Vor&#x017F;tellungen thun durch<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">N n 2</fw><fw place="bottom" type="catch">ihre</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[563/0587] 1 Abſchn. Erſetz. der Seelenw. durch Nervenw. werden. §. 552. Wofern je die Angſt eine Fliege bewe- get, um ſich zu retten, davon zu fliegen, wenn ſie angeruͤh- ret wird; ſo thut bey den Enthaupteten der bloße aͤußere ſinnliche Eindruck eben die Wirkung. Wenn ein Wolf durch Hunger raubgierig wird, und um ſich zu ſaͤttigen, andre Thiere belauſcht, angreift, erwuͤrget und frißt, ſo thut es ein abgeſchnittenes Stuͤck von einem Polypen ge- wiß nicht aus Luſt zu rauben, noch weil es Hunger empfin- det. Wenn je eine Biene, aus Nothwehr, mit Rachgier ſticht, ſo thut es doch ihr abgeſchnittener Bauch gewiß nicht aus Rache. Wenn wolluͤſtige Thiere ſich aus Geilheit lo- cken und begatten, ſo werden die enthaupteten Grillen und Schmetterlinge doch wohl nicht aus Geilheit handeln: und wenn endlich manche Thiere aus Liebe fuͤr ihre Nachkom- menſchaft etwas thun, ſo geſchieht es doch gewiß nicht aus Fuͤrſorge fuͤr ſie, daß ein enthauptetes Weibchen der Schmetterlinge ſeine Eyer eben ſo behutſam hinleget, als ein andres. Man ſieht alſo die thieriſchen Bewegungen, welche bey manchen Thieren offenbar Seelenwirkungen von Affektentrieben ſind, im Thierreiche auch als bloße Nerven- wirkungen von einerley aͤußern ſinnlichen Eindruͤcken erfol- gen, und da dieß oft bey Thieren wahrgenommen wird, die doch von Natur beſtimmet ſind, durch thieriſche See- lenkraͤfte regieret zu werden; ſo laͤßt ſich leicht erachten, daß es deſto gewiſſer bey ſolchen nothduͤrftighinlaͤnglich geſche- hen koͤnne, deren Koͤrper von Natur blos mit Nerven- kraͤften verſehen waͤren. §. 563. Daß die Seelenwirkungen der Leidenſchaften durch innere ſinnliche Eindruͤcke ohne Vorſtellungen uͤberhaupt als Nervenwirkungen erſetzet werden koͤnnen, daran iſt kein Zweifel, §. 503. Alle Leidenſchaften veraͤndern den Um- lauf, die Bewegung des Herzens, das Athemholen, und die Lebensbewegungen uͤberhaupt. §. 307. 310. Die in- nern ſinnlichen Eindruͤcke ohne Vorſtellungen thun durch ihre N n 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/587
Zitationshilfe: Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771, S. 563. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/587>, abgerufen am 21.11.2024.