Hände ringt und sich das Haar raufet. Alle diese heftigen Bewegungen, welche theils die Seelenwirkungen der Vor- hersehung in der Leidenschaft, theils zufälliger Nebenvor- stellungen sind, die sich zu ihnen gesellen, §. 305. 273. würden selbst durch den mechanischen und thierischen Zu- sammenhang der Kräfte, die Bewegung des Herzens, wenn sie zu schwach wäre, aufreizen, und heftig machen müssen, und da sie gleichwohl zur Leidenschaft gehören, so können die Lebensbewegungen darinn, vermöge der Natur der Lei- denschaft selbst, nicht schwächer seyn, als im gleichgültigen Zustande des Gemüths.
§. 311.
Da in der Leidenschaft der Traurigkeit, und in allen betrübten Leidenschaften das Herz sich widernatürlich bewe- get, und nebst der Lunge mit Blute überhäufet wird, §. 310. so ist daraus überhaupt die Ungesundheit und Schäd- lichkeit fürs Leben, die diese Leidenschaften stiften, insbeson- dre aber der kleine Puls, die blasse Farbe, die Beängsti- gung der Brust, die davon erregten Triebe zum Seufzen, Weinen und Wehklagen, als Seelenwirkungen von Ne- benempfindungen, §. 285. das dazwischen erfolgende Herz- klopfen, die Unordnung in den Verrichtungen aller Ma- schinen des Körpers, in so fern sie von den Lebensbewegun- gen bestimmet werden, die Unterbrechung, oder unnatürli- che Vermehrung mancher Absonderungen und Ausführun- gen, z. E. die unterbrochene Ausdünstung der Haut, der starke Thränenfluß, u. s. w. wo nicht aufs genaueste zu er- klären, doch überhaupt sicherlich herzuleiten. Und so wie je- de große unnatürliche Veränderung der Lebensbewegungen bald große Krankheiten und den Tod nach sich ziehen, bald andre Krankheiten, auf die ein solcher Fehler der Lebensbe- wegungen gut passet, curiren kann, §. 259. so lehret auch die Erfahrung von einer sehr großen Traurigkeit, und allen solchen betrübten Leidenschaften, beydes, daß sie zuweilen krank machen und tödten, und daß sie manche Krankheiten
heben
U 2
der Leidenſchaften.
Haͤnde ringt und ſich das Haar raufet. Alle dieſe heftigen Bewegungen, welche theils die Seelenwirkungen der Vor- herſehung in der Leidenſchaft, theils zufaͤlliger Nebenvor- ſtellungen ſind, die ſich zu ihnen geſellen, §. 305. 273. wuͤrden ſelbſt durch den mechaniſchen und thieriſchen Zu- ſammenhang der Kraͤfte, die Bewegung des Herzens, wenn ſie zu ſchwach waͤre, aufreizen, und heftig machen muͤſſen, und da ſie gleichwohl zur Leidenſchaft gehoͤren, ſo koͤnnen die Lebensbewegungen darinn, vermoͤge der Natur der Lei- denſchaft ſelbſt, nicht ſchwaͤcher ſeyn, als im gleichguͤltigen Zuſtande des Gemuͤths.
§. 311.
Da in der Leidenſchaft der Traurigkeit, und in allen betruͤbten Leidenſchaften das Herz ſich widernatuͤrlich bewe- get, und nebſt der Lunge mit Blute uͤberhaͤufet wird, §. 310. ſo iſt daraus uͤberhaupt die Ungeſundheit und Schaͤd- lichkeit fuͤrs Leben, die dieſe Leidenſchaften ſtiften, insbeſon- dre aber der kleine Puls, die blaſſe Farbe, die Beaͤngſti- gung der Bruſt, die davon erregten Triebe zum Seufzen, Weinen und Wehklagen, als Seelenwirkungen von Ne- benempfindungen, §. 285. das dazwiſchen erfolgende Herz- klopfen, die Unordnung in den Verrichtungen aller Ma- ſchinen des Koͤrpers, in ſo fern ſie von den Lebensbewegun- gen beſtimmet werden, die Unterbrechung, oder unnatuͤrli- che Vermehrung mancher Abſonderungen und Ausfuͤhrun- gen, z. E. die unterbrochene Ausduͤnſtung der Haut, der ſtarke Thraͤnenfluß, u. ſ. w. wo nicht aufs genaueſte zu er- klaͤren, doch uͤberhaupt ſicherlich herzuleiten. Und ſo wie je- de große unnatuͤrliche Veraͤnderung der Lebensbewegungen bald große Krankheiten und den Tod nach ſich ziehen, bald andre Krankheiten, auf die ein ſolcher Fehler der Lebensbe- wegungen gut paſſet, curiren kann, §. 259. ſo lehret auch die Erfahrung von einer ſehr großen Traurigkeit, und allen ſolchen betruͤbten Leidenſchaften, beydes, daß ſie zuweilen krank machen und toͤdten, und daß ſie manche Krankheiten
heben
U 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0331"n="307"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">der Leidenſchaften.</hi></fw><lb/>
Haͤnde ringt und ſich das Haar raufet. Alle dieſe heftigen<lb/>
Bewegungen, welche theils die Seelenwirkungen der Vor-<lb/>
herſehung in der Leidenſchaft, theils zufaͤlliger Nebenvor-<lb/>ſtellungen ſind, die ſich zu ihnen geſellen, §. 305. 273.<lb/>
wuͤrden ſelbſt durch den mechaniſchen und thieriſchen Zu-<lb/>ſammenhang der Kraͤfte, die Bewegung des Herzens, wenn<lb/>ſie zu ſchwach waͤre, aufreizen, und heftig machen muͤſſen,<lb/>
und da ſie gleichwohl zur Leidenſchaft gehoͤren, ſo koͤnnen<lb/>
die Lebensbewegungen darinn, vermoͤge der Natur der Lei-<lb/>
denſchaft ſelbſt, nicht ſchwaͤcher ſeyn, als im gleichguͤltigen<lb/>
Zuſtande des Gemuͤths.</p></div><lb/><divn="4"><head>§. 311.</head><lb/><p>Da in der Leidenſchaft der Traurigkeit, und in allen<lb/>
betruͤbten Leidenſchaften das Herz ſich widernatuͤrlich bewe-<lb/>
get, und nebſt der Lunge mit Blute uͤberhaͤufet wird, §.<lb/>
310. ſo iſt daraus uͤberhaupt die Ungeſundheit und Schaͤd-<lb/>
lichkeit fuͤrs Leben, die dieſe Leidenſchaften ſtiften, insbeſon-<lb/>
dre aber der kleine Puls, die blaſſe Farbe, die Beaͤngſti-<lb/>
gung der Bruſt, die davon erregten Triebe zum Seufzen,<lb/>
Weinen und Wehklagen, als Seelenwirkungen von Ne-<lb/>
benempfindungen, §. 285. das dazwiſchen erfolgende Herz-<lb/>
klopfen, die Unordnung in den Verrichtungen aller Ma-<lb/>ſchinen des Koͤrpers, in ſo fern ſie von den Lebensbewegun-<lb/>
gen beſtimmet werden, die Unterbrechung, oder unnatuͤrli-<lb/>
che Vermehrung mancher Abſonderungen und Ausfuͤhrun-<lb/>
gen, z. E. die unterbrochene Ausduͤnſtung der Haut, der<lb/>ſtarke Thraͤnenfluß, u. ſ. w. wo nicht aufs genaueſte zu er-<lb/>
klaͤren, doch uͤberhaupt ſicherlich herzuleiten. Und ſo wie je-<lb/>
de große unnatuͤrliche Veraͤnderung der Lebensbewegungen<lb/>
bald große Krankheiten und den Tod nach ſich ziehen, bald<lb/>
andre Krankheiten, auf die ein ſolcher Fehler der Lebensbe-<lb/>
wegungen gut paſſet, curiren kann, §. 259. ſo lehret auch<lb/>
die Erfahrung von einer ſehr großen Traurigkeit, und allen<lb/>ſolchen betruͤbten Leidenſchaften, beydes, daß ſie zuweilen<lb/>
krank machen und toͤdten, und daß ſie manche Krankheiten<lb/><fwplace="bottom"type="sig">U 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">heben</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[307/0331]
der Leidenſchaften.
Haͤnde ringt und ſich das Haar raufet. Alle dieſe heftigen
Bewegungen, welche theils die Seelenwirkungen der Vor-
herſehung in der Leidenſchaft, theils zufaͤlliger Nebenvor-
ſtellungen ſind, die ſich zu ihnen geſellen, §. 305. 273.
wuͤrden ſelbſt durch den mechaniſchen und thieriſchen Zu-
ſammenhang der Kraͤfte, die Bewegung des Herzens, wenn
ſie zu ſchwach waͤre, aufreizen, und heftig machen muͤſſen,
und da ſie gleichwohl zur Leidenſchaft gehoͤren, ſo koͤnnen
die Lebensbewegungen darinn, vermoͤge der Natur der Lei-
denſchaft ſelbſt, nicht ſchwaͤcher ſeyn, als im gleichguͤltigen
Zuſtande des Gemuͤths.
§. 311.
Da in der Leidenſchaft der Traurigkeit, und in allen
betruͤbten Leidenſchaften das Herz ſich widernatuͤrlich bewe-
get, und nebſt der Lunge mit Blute uͤberhaͤufet wird, §.
310. ſo iſt daraus uͤberhaupt die Ungeſundheit und Schaͤd-
lichkeit fuͤrs Leben, die dieſe Leidenſchaften ſtiften, insbeſon-
dre aber der kleine Puls, die blaſſe Farbe, die Beaͤngſti-
gung der Bruſt, die davon erregten Triebe zum Seufzen,
Weinen und Wehklagen, als Seelenwirkungen von Ne-
benempfindungen, §. 285. das dazwiſchen erfolgende Herz-
klopfen, die Unordnung in den Verrichtungen aller Ma-
ſchinen des Koͤrpers, in ſo fern ſie von den Lebensbewegun-
gen beſtimmet werden, die Unterbrechung, oder unnatuͤrli-
che Vermehrung mancher Abſonderungen und Ausfuͤhrun-
gen, z. E. die unterbrochene Ausduͤnſtung der Haut, der
ſtarke Thraͤnenfluß, u. ſ. w. wo nicht aufs genaueſte zu er-
klaͤren, doch uͤberhaupt ſicherlich herzuleiten. Und ſo wie je-
de große unnatuͤrliche Veraͤnderung der Lebensbewegungen
bald große Krankheiten und den Tod nach ſich ziehen, bald
andre Krankheiten, auf die ein ſolcher Fehler der Lebensbe-
wegungen gut paſſet, curiren kann, §. 259. ſo lehret auch
die Erfahrung von einer ſehr großen Traurigkeit, und allen
ſolchen betruͤbten Leidenſchaften, beydes, daß ſie zuweilen
krank machen und toͤdten, und daß ſie manche Krankheiten
heben
U 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/331>, abgerufen am 30.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.