Uhland, Ludwig: Gedichte. Stuttgart u. a., 1815.
Des Sängers Fluch. Es stand in alten Zeiten ein Schloß, so hoch und hehr, Weit glänzt' es über die Lande bis an das blaue Meer, Und rings von duft'gen Gärten ein blüthenreicher Kranz, Drin sprangen frische Brunnen in Regenbogenglanz. Dort saß ein stolzer König, an Land und Siegen reich, Er saß auf seinem Throne so finster und so bleich; Denn was er sinnt, ist Schrecken, und was er blickt, ist Wuth, Und was er spricht, ist Geißel, und was er schreibt, ist Blut. Einst zog nach diesem Schlosse ein edles Sängerpaar, Der Ein' in goldnen Locken, der Andre grau von Haar; Der Alte mit der Harfe, der saß auf schmuckem Roß, Es schritt ihm frisch zur Seite der blühende Genoß. Der Alte sprach zum Jungen: "nun sey bereit, mein Sohn! Denk unsrer tiefsten Lieder, stimm an den vollsten Ton, Nimm alle Kraft zusammen, die Lust und auch den Schmerz! Es gilt uns heut, zu rühren des Königs steinern Herz." Schon stehn die beiden Sänger im hohen Säulensaal Und auf dem Throne sitzen der König und sein Gemahl; Der König, furchtbar prächtig, wie blut'ger Nordlichtschein, Die Königin, süß und milde, als blickte Vollmond drein. Des Sängers Fluch. Es ſtand in alten Zeiten ein Schloß, ſo hoch und hehr, Weit glänzt’ es über die Lande bis an das blaue Meer, Und rings von duft’gen Gärten ein blüthenreicher Kranz, Drin ſprangen friſche Brunnen in Regenbogenglanz. Dort ſaß ein ſtolzer König, an Land und Siegen reich, Er ſaß auf ſeinem Throne ſo finſter und ſo bleich; Denn was er ſinnt, iſt Schrecken, und was er blickt, iſt Wuth, Und was er ſpricht, iſt Geißel, und was er ſchreibt, iſt Blut. Einſt zog nach dieſem Schloſſe ein edles Sängerpaar, Der Ein’ in goldnen Locken, der Andre grau von Haar; Der Alte mit der Harfe, der ſaß auf ſchmuckem Roß, Es ſchritt ihm friſch zur Seite der blühende Genoß. Der Alte ſprach zum Jungen: „nun ſey bereit, mein Sohn! Denk unſrer tiefſten Lieder, ſtimm an den vollſten Ton, Nimm alle Kraft zuſammen, die Luſt und auch den Schmerz! Es gilt uns heut, zu rühren des Königs ſteinern Herz.“ Schon ſtehn die beiden Sänger im hohen Säulenſaal Und auf dem Throne ſitzen der König und ſein Gemahl; Der König, furchtbar prächtig, wie blut’ger Nordlichtſchein, Die Königin, ſüß und milde, als blickte Vollmond drein. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0341" n="335"/> <div n="2"> <head><hi rendition="#g">Des Sängers Fluch</hi>.</head><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>Es ſtand in alten Zeiten ein Schloß, ſo hoch und hehr,</l><lb/> <l>Weit glänzt’ es über die Lande bis an das blaue Meer,</l><lb/> <l>Und rings von duft’gen Gärten ein blüthenreicher Kranz,</l><lb/> <l>Drin ſprangen friſche Brunnen in Regenbogenglanz.</l> </lg><lb/> <lg n="2"> <l>Dort ſaß ein ſtolzer König, an Land und Siegen reich,</l><lb/> <l>Er ſaß auf ſeinem Throne ſo finſter und ſo bleich;</l><lb/> <l>Denn was er ſinnt, iſt Schrecken, und was er blickt, iſt Wuth,</l><lb/> <l>Und was er ſpricht, iſt Geißel, und was er ſchreibt, iſt Blut.</l> </lg><lb/> <lg n="3"> <l>Einſt zog nach dieſem Schloſſe ein edles Sängerpaar,</l><lb/> <l>Der Ein’ in goldnen Locken, der Andre grau von Haar;</l><lb/> <l>Der Alte mit der Harfe, der ſaß auf ſchmuckem Roß,</l><lb/> <l>Es ſchritt ihm friſch zur Seite der blühende Genoß.</l> </lg><lb/> <lg n="4"> <l>Der Alte ſprach zum Jungen: „nun ſey bereit, mein Sohn!</l><lb/> <l>Denk unſrer tiefſten Lieder, ſtimm an den vollſten Ton,</l><lb/> <l>Nimm alle Kraft zuſammen, die Luſt und auch den Schmerz!</l><lb/> <l>Es gilt uns heut, zu rühren des Königs ſteinern Herz.“</l> </lg><lb/> <lg n="5"> <l>Schon ſtehn die beiden Sänger im hohen Säulenſaal</l><lb/> <l>Und auf dem Throne ſitzen der König und ſein Gemahl;</l><lb/> <l>Der König, furchtbar prächtig, wie blut’ger Nordlichtſchein,</l><lb/> <l>Die Königin, ſüß und milde, als blickte Vollmond drein.</l> </lg><lb/> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [335/0341]
Des Sängers Fluch.
Es ſtand in alten Zeiten ein Schloß, ſo hoch und hehr,
Weit glänzt’ es über die Lande bis an das blaue Meer,
Und rings von duft’gen Gärten ein blüthenreicher Kranz,
Drin ſprangen friſche Brunnen in Regenbogenglanz.
Dort ſaß ein ſtolzer König, an Land und Siegen reich,
Er ſaß auf ſeinem Throne ſo finſter und ſo bleich;
Denn was er ſinnt, iſt Schrecken, und was er blickt, iſt Wuth,
Und was er ſpricht, iſt Geißel, und was er ſchreibt, iſt Blut.
Einſt zog nach dieſem Schloſſe ein edles Sängerpaar,
Der Ein’ in goldnen Locken, der Andre grau von Haar;
Der Alte mit der Harfe, der ſaß auf ſchmuckem Roß,
Es ſchritt ihm friſch zur Seite der blühende Genoß.
Der Alte ſprach zum Jungen: „nun ſey bereit, mein Sohn!
Denk unſrer tiefſten Lieder, ſtimm an den vollſten Ton,
Nimm alle Kraft zuſammen, die Luſt und auch den Schmerz!
Es gilt uns heut, zu rühren des Königs ſteinern Herz.“
Schon ſtehn die beiden Sänger im hohen Säulenſaal
Und auf dem Throne ſitzen der König und ſein Gemahl;
Der König, furchtbar prächtig, wie blut’ger Nordlichtſchein,
Die Königin, ſüß und milde, als blickte Vollmond drein.
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