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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Fünfter Abschnitt.

Die Großmächte und die Trias.

Wunderbar, über alles Erwarten hinaus hatte das Glück den öster-
reichischen Hof in Laibach begünstigt. Mit überströmender Freude pries
Gentz diesen glorreichen Congreß, diese Krone seines diplomatischen Lebens,
und sein getreuer Adam Müller sah schon den lichten Tag eines neuen
Zeitalters über Europa hereinbrechen: das alte Völkerrecht der Natur-
rechtslehrer ging zu Grabe, und das christliche Recht trat seine Herrschaft
an. Aber die glänzende Machtstellung des Wiener Kabinets konnte nur
dauern, wenn es gelang, den Czaren über seine nächsten Pflichten und
Interessen zu täuschen, ihn fernzuhalten von dem unaufhaltsam dahin-
wogenden Freiheitskampfe der Hellenen. Und auch dieser fast unmögliche
Erfolg ward der glückhaften Wiener Staatskunst noch beschieden, weniger
durch ihre eigene Gewandtheit als durch die krankhafte Verstimmung Kaiser
Alexanders.

Welch ein armes, unglückseliges Menschenkind war nunmehr dieser mäch-
tige Herrscher, der sich erkühnt hatte die gesammte Christenheit zum heiligen
Bunde zu vereinigen. Mit seinen vierundvierzig Jahren schon verekelt an
allen Freuden des Lebens, seiner Gemahlin entfremdet, der alten Liebschaf-
ten überdrüssig, verlor er jetzt auch seine Lieblingstochter Sophie Narischkin;
haltlos und friedlos, zerknirscht von der Strafe Gottes, suchte er Trost
in einem schwärmerischen Einsiedlerleben, um nur dann und wann eine
jener plötzlichen Czarenreisen in das Innere seines weiten Reichs zu unter-
nehmen, auf denen der Herrscher nach altrussischem Brauche nichts sieht,
nichts lernt, nichts bessert. Auf nachhaltige Arbeit hatte er sich nie ver-
standen; die Langeweile dieses öden Daseins grinste ihn an; in dem grüb-
lerischen Mißmuth seiner Einsamkeit ward sein schwaches Gemüth endlich
ganz überwältigt von dem finsteren Argwohn, der sein Lebelang nicht mehr
von ihm gewichen war seit jenem Tage des Grauens, da er einst die
Krone aus den Händen der Mörder seines Vaters empfangen hatte.
Ueberall sah er das Gespenst der Revolution. Noch von Laibach aus
befahl er die Errichtung einer geheimen Militärpolizei, welche, mit 40,000
Rubel jährlich ausgestattet, allein zur Beobachtung seiner Gardeoffiziere

Fünfter Abſchnitt.

Die Großmächte und die Trias.

Wunderbar, über alles Erwarten hinaus hatte das Glück den öſter-
reichiſchen Hof in Laibach begünſtigt. Mit überſtrömender Freude pries
Gentz dieſen glorreichen Congreß, dieſe Krone ſeines diplomatiſchen Lebens,
und ſein getreuer Adam Müller ſah ſchon den lichten Tag eines neuen
Zeitalters über Europa hereinbrechen: das alte Völkerrecht der Natur-
rechtslehrer ging zu Grabe, und das chriſtliche Recht trat ſeine Herrſchaft
an. Aber die glänzende Machtſtellung des Wiener Kabinets konnte nur
dauern, wenn es gelang, den Czaren über ſeine nächſten Pflichten und
Intereſſen zu täuſchen, ihn fernzuhalten von dem unaufhaltſam dahin-
wogenden Freiheitskampfe der Hellenen. Und auch dieſer faſt unmögliche
Erfolg ward der glückhaften Wiener Staatskunſt noch beſchieden, weniger
durch ihre eigene Gewandtheit als durch die krankhafte Verſtimmung Kaiſer
Alexanders.

Welch ein armes, unglückſeliges Menſchenkind war nunmehr dieſer mäch-
tige Herrſcher, der ſich erkühnt hatte die geſammte Chriſtenheit zum heiligen
Bunde zu vereinigen. Mit ſeinen vierundvierzig Jahren ſchon verekelt an
allen Freuden des Lebens, ſeiner Gemahlin entfremdet, der alten Liebſchaf-
ten überdrüſſig, verlor er jetzt auch ſeine Lieblingstochter Sophie Nariſchkin;
haltlos und friedlos, zerknirſcht von der Strafe Gottes, ſuchte er Troſt
in einem ſchwärmeriſchen Einſiedlerleben, um nur dann und wann eine
jener plötzlichen Czarenreiſen in das Innere ſeines weiten Reichs zu unter-
nehmen, auf denen der Herrſcher nach altruſſiſchem Brauche nichts ſieht,
nichts lernt, nichts beſſert. Auf nachhaltige Arbeit hatte er ſich nie ver-
ſtanden; die Langeweile dieſes öden Daſeins grinſte ihn an; in dem grüb-
leriſchen Mißmuth ſeiner Einſamkeit ward ſein ſchwaches Gemüth endlich
ganz überwältigt von dem finſteren Argwohn, der ſein Lebelang nicht mehr
von ihm gewichen war ſeit jenem Tage des Grauens, da er einſt die
Krone aus den Händen der Mörder ſeines Vaters empfangen hatte.
Ueberall ſah er das Geſpenſt der Revolution. Noch von Laibach aus
befahl er die Errichtung einer geheimen Militärpolizei, welche, mit 40,000
Rubel jährlich ausgeſtattet, allein zur Beobachtung ſeiner Gardeoffiziere

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[[254]/0270] Fünfter Abſchnitt. Die Großmächte und die Trias. Wunderbar, über alles Erwarten hinaus hatte das Glück den öſter- reichiſchen Hof in Laibach begünſtigt. Mit überſtrömender Freude pries Gentz dieſen glorreichen Congreß, dieſe Krone ſeines diplomatiſchen Lebens, und ſein getreuer Adam Müller ſah ſchon den lichten Tag eines neuen Zeitalters über Europa hereinbrechen: das alte Völkerrecht der Natur- rechtslehrer ging zu Grabe, und das chriſtliche Recht trat ſeine Herrſchaft an. Aber die glänzende Machtſtellung des Wiener Kabinets konnte nur dauern, wenn es gelang, den Czaren über ſeine nächſten Pflichten und Intereſſen zu täuſchen, ihn fernzuhalten von dem unaufhaltſam dahin- wogenden Freiheitskampfe der Hellenen. Und auch dieſer faſt unmögliche Erfolg ward der glückhaften Wiener Staatskunſt noch beſchieden, weniger durch ihre eigene Gewandtheit als durch die krankhafte Verſtimmung Kaiſer Alexanders. Welch ein armes, unglückſeliges Menſchenkind war nunmehr dieſer mäch- tige Herrſcher, der ſich erkühnt hatte die geſammte Chriſtenheit zum heiligen Bunde zu vereinigen. Mit ſeinen vierundvierzig Jahren ſchon verekelt an allen Freuden des Lebens, ſeiner Gemahlin entfremdet, der alten Liebſchaf- ten überdrüſſig, verlor er jetzt auch ſeine Lieblingstochter Sophie Nariſchkin; haltlos und friedlos, zerknirſcht von der Strafe Gottes, ſuchte er Troſt in einem ſchwärmeriſchen Einſiedlerleben, um nur dann und wann eine jener plötzlichen Czarenreiſen in das Innere ſeines weiten Reichs zu unter- nehmen, auf denen der Herrſcher nach altruſſiſchem Brauche nichts ſieht, nichts lernt, nichts beſſert. Auf nachhaltige Arbeit hatte er ſich nie ver- ſtanden; die Langeweile dieſes öden Daſeins grinſte ihn an; in dem grüb- leriſchen Mißmuth ſeiner Einſamkeit ward ſein ſchwaches Gemüth endlich ganz überwältigt von dem finſteren Argwohn, der ſein Lebelang nicht mehr von ihm gewichen war ſeit jenem Tage des Grauens, da er einſt die Krone aus den Händen der Mörder ſeines Vaters empfangen hatte. Ueberall ſah er das Geſpenſt der Revolution. Noch von Laibach aus befahl er die Errichtung einer geheimen Militärpolizei, welche, mit 40,000 Rubel jährlich ausgeſtattet, allein zur Beobachtung ſeiner Gardeoffiziere

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. [254]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/270>, abgerufen am 22.12.2024.