Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
Bauern des Hochgebirges gestaltete er das verklärte Bild eines großen
Freiheitskrieges und legte Alles darin nieder was nur ein hoher Sinn
über die ewigen Rechte des Menschen, über den Muth und Einmuth
freier Völker zu sagen vermag. Der Tell sollte bald für unser politisches
Leben noch folgenreicher werden als einst Klopstocks Bardengesänge. An
diesem Gedichte vornehmlich nährte das heranwachsende Geschlecht seine
Begeisterung für Freiheit und Vaterland; die ganz dramatisch gedachte
Mahnung: "seid einig, einig, einig!" erschien den jungen Schwärmern
wie ein heiliges Vermächtniß des Dichters an sein eignes Volk.

Die nationale Bühne freilich, worauf seit Lessing alle unsere Drama-
tiker hofften, ist auch durch Schiller den Deutschen nicht geschenkt worden,
weil kein einzelner Mann sie zu schaffen vermochte. Schiller strebte nach
einem nationalen Stile, der das Echte und Große der älteren Dramatik,
den Gestaltenreichthum, die bewegte Handlung und die tiefe Charakteristik
Shakespeares, den lyrischen Schwung der antiken, und die strenge Com-
position der französischen Tragödie bewußt und selbständig in sich ver-
einigen und darum dem Charakter unserer neuen Bildung entsprechen
sollte. Aber es fehlte dem Dichter der lebendige Verkehr mit dem Volke.
Nur der brausende Jubelruf einer großstädtischen Hörerschaft zeigt dem
Dramatiker, wann er das Allen Gemeine, das wahrhaft Volksthümliche
gefunden hat. Die Handvoll trübseliger Kleinbürger im Parterre des
Weimarischen Theaterschuppens waren kein Volk, und die vornehmen
Schöngeister in den Logen des Hofes zollten den Experimenten geistreich
spielender Willkür den gleichen, ja vielleicht noch lebhafteren Beifall wie
dem einfach Großen. Es fehlte den Deutschen überhaupt, wie Goethe
klagte, "eine Nationalcultur, die den Dichter zwingt die Eigenheiten seines
Genies ihr zu unterwerfen". Fast nur gebend, wenig empfangend standen
die Dioskuren von Weimar ihrem Volke gegenüber, das sie erst empor-
hoben zu reinerer Bildung. Darum sind Beide nach mannichfachen Ver-
suchen mit Trilogien und Einzeldramen, mit Jamben und Reimpaaren,
mit Chorgesängen und melodramatischen Einlagen doch nicht dahin gelangt
für unser Drama eine Kunstform zu schaffen, die als die nationale an-
erkannt wurde. Wie die feierliche, übertrieben pathetische Declamation der
Weimarischen Schauspieler im übrigen Deutschland nicht zur Herrschaft
gelangte, so trieben auch die dramatischen Dichter nach Willkür und Laune
ihr Wesen, Jeder von vorn beginnend, Jeder bemüht durch neue Künste
und Künsteleien alle Anderen zu übertreffen. Unsere Bühne bot ein
Bild der Anarchie, das freilich auch allen Zauber der ungebundenen Frei-
heit zeigte. Nicmand hat die kleinliche Zersplitterung des deutschen Lebens
und ihre verderbliche Einwirkung auf die Kunst schmerzlicher empfunden
als Goethe. Ueber seinen Wilhelm Meister sagte er geradezu: da habe
er nun "den allerelendesten Stoff, Komödianten und Landedelleute" wählen
müssen, weil die deutsche Gesellschaft dem Dichter keinen besseren biete;

I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Bauern des Hochgebirges geſtaltete er das verklärte Bild eines großen
Freiheitskrieges und legte Alles darin nieder was nur ein hoher Sinn
über die ewigen Rechte des Menſchen, über den Muth und Einmuth
freier Völker zu ſagen vermag. Der Tell ſollte bald für unſer politiſches
Leben noch folgenreicher werden als einſt Klopſtocks Bardengeſänge. An
dieſem Gedichte vornehmlich nährte das heranwachſende Geſchlecht ſeine
Begeiſterung für Freiheit und Vaterland; die ganz dramatiſch gedachte
Mahnung: „ſeid einig, einig, einig!“ erſchien den jungen Schwärmern
wie ein heiliges Vermächtniß des Dichters an ſein eignes Volk.

Die nationale Bühne freilich, worauf ſeit Leſſing alle unſere Drama-
tiker hofften, iſt auch durch Schiller den Deutſchen nicht geſchenkt worden,
weil kein einzelner Mann ſie zu ſchaffen vermochte. Schiller ſtrebte nach
einem nationalen Stile, der das Echte und Große der älteren Dramatik,
den Geſtaltenreichthum, die bewegte Handlung und die tiefe Charakteriſtik
Shakeſpeares, den lyriſchen Schwung der antiken, und die ſtrenge Com-
poſition der franzöſiſchen Tragödie bewußt und ſelbſtändig in ſich ver-
einigen und darum dem Charakter unſerer neuen Bildung entſprechen
ſollte. Aber es fehlte dem Dichter der lebendige Verkehr mit dem Volke.
Nur der brauſende Jubelruf einer großſtädtiſchen Hörerſchaft zeigt dem
Dramatiker, wann er das Allen Gemeine, das wahrhaft Volksthümliche
gefunden hat. Die Handvoll trübſeliger Kleinbürger im Parterre des
Weimariſchen Theaterſchuppens waren kein Volk, und die vornehmen
Schöngeiſter in den Logen des Hofes zollten den Experimenten geiſtreich
ſpielender Willkür den gleichen, ja vielleicht noch lebhafteren Beifall wie
dem einfach Großen. Es fehlte den Deutſchen überhaupt, wie Goethe
klagte, „eine Nationalcultur, die den Dichter zwingt die Eigenheiten ſeines
Genies ihr zu unterwerfen“. Faſt nur gebend, wenig empfangend ſtanden
die Dioskuren von Weimar ihrem Volke gegenüber, das ſie erſt empor-
hoben zu reinerer Bildung. Darum ſind Beide nach mannichfachen Ver-
ſuchen mit Trilogien und Einzeldramen, mit Jamben und Reimpaaren,
mit Chorgeſängen und melodramatiſchen Einlagen doch nicht dahin gelangt
für unſer Drama eine Kunſtform zu ſchaffen, die als die nationale an-
erkannt wurde. Wie die feierliche, übertrieben pathetiſche Declamation der
Weimariſchen Schauſpieler im übrigen Deutſchland nicht zur Herrſchaft
gelangte, ſo trieben auch die dramatiſchen Dichter nach Willkür und Laune
ihr Weſen, Jeder von vorn beginnend, Jeder bemüht durch neue Künſte
und Künſteleien alle Anderen zu übertreffen. Unſere Bühne bot ein
Bild der Anarchie, das freilich auch allen Zauber der ungebundenen Frei-
heit zeigte. Nicmand hat die kleinliche Zerſplitterung des deutſchen Lebens
und ihre verderbliche Einwirkung auf die Kunſt ſchmerzlicher empfunden
als Goethe. Ueber ſeinen Wilhelm Meiſter ſagte er geradezu: da habe
er nun „den allerelendeſten Stoff, Komödianten und Landedelleute“ wählen
müſſen, weil die deutſche Geſellſchaft dem Dichter keinen beſſeren biete;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0218" n="202"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> 2. Revolution und Fremdherr&#x017F;chaft.</fw><lb/>
Bauern des Hochgebirges ge&#x017F;taltete er das verklärte Bild eines großen<lb/>
Freiheitskrieges und legte Alles darin nieder was nur ein hoher Sinn<lb/>
über die ewigen Rechte des Men&#x017F;chen, über den Muth und Einmuth<lb/>
freier Völker zu &#x017F;agen vermag. Der Tell &#x017F;ollte bald für un&#x017F;er politi&#x017F;ches<lb/>
Leben noch folgenreicher werden als ein&#x017F;t Klop&#x017F;tocks Bardenge&#x017F;änge. An<lb/>
die&#x017F;em Gedichte vornehmlich nährte das heranwach&#x017F;ende Ge&#x017F;chlecht &#x017F;eine<lb/>
Begei&#x017F;terung für Freiheit und Vaterland; die ganz dramati&#x017F;ch gedachte<lb/>
Mahnung: &#x201E;&#x017F;eid einig, einig, einig!&#x201C; er&#x017F;chien den jungen Schwärmern<lb/>
wie ein heiliges Vermächtniß des Dichters an &#x017F;ein eignes Volk.</p><lb/>
            <p>Die nationale Bühne freilich, worauf &#x017F;eit Le&#x017F;&#x017F;ing alle un&#x017F;ere Drama-<lb/>
tiker hofften, i&#x017F;t auch durch Schiller den Deut&#x017F;chen nicht ge&#x017F;chenkt worden,<lb/>
weil kein einzelner Mann &#x017F;ie zu &#x017F;chaffen vermochte. Schiller &#x017F;trebte nach<lb/>
einem nationalen Stile, der das Echte und Große der älteren Dramatik,<lb/>
den Ge&#x017F;taltenreichthum, die bewegte Handlung und die tiefe Charakteri&#x017F;tik<lb/>
Shake&#x017F;peares, den lyri&#x017F;chen Schwung der antiken, und die &#x017F;trenge Com-<lb/>
po&#x017F;ition der franzö&#x017F;i&#x017F;chen Tragödie bewußt und &#x017F;elb&#x017F;tändig in &#x017F;ich ver-<lb/>
einigen und darum dem Charakter un&#x017F;erer neuen Bildung ent&#x017F;prechen<lb/>
&#x017F;ollte. Aber es fehlte dem Dichter der lebendige Verkehr mit dem Volke.<lb/>
Nur der brau&#x017F;ende Jubelruf einer groß&#x017F;tädti&#x017F;chen Hörer&#x017F;chaft zeigt dem<lb/>
Dramatiker, wann er das Allen Gemeine, das wahrhaft Volksthümliche<lb/>
gefunden hat. Die Handvoll trüb&#x017F;eliger Kleinbürger im Parterre des<lb/>
Weimari&#x017F;chen Theater&#x017F;chuppens waren kein Volk, und die vornehmen<lb/>
Schöngei&#x017F;ter in den Logen des Hofes zollten den Experimenten gei&#x017F;treich<lb/>
&#x017F;pielender Willkür den gleichen, ja vielleicht noch lebhafteren Beifall wie<lb/>
dem einfach Großen. Es fehlte den Deut&#x017F;chen überhaupt, wie Goethe<lb/>
klagte, &#x201E;eine Nationalcultur, die den Dichter zwingt die Eigenheiten &#x017F;eines<lb/>
Genies ihr zu unterwerfen&#x201C;. Fa&#x017F;t nur gebend, wenig empfangend &#x017F;tanden<lb/>
die Dioskuren von Weimar ihrem Volke gegenüber, das &#x017F;ie er&#x017F;t empor-<lb/>
hoben zu reinerer Bildung. Darum &#x017F;ind Beide nach mannichfachen Ver-<lb/>
&#x017F;uchen mit Trilogien und Einzeldramen, mit Jamben und Reimpaaren,<lb/>
mit Chorge&#x017F;ängen und melodramati&#x017F;chen Einlagen doch nicht dahin gelangt<lb/>
für un&#x017F;er Drama eine Kun&#x017F;tform zu &#x017F;chaffen, die als die nationale an-<lb/>
erkannt wurde. Wie die feierliche, übertrieben patheti&#x017F;che Declamation der<lb/>
Weimari&#x017F;chen Schau&#x017F;pieler im übrigen Deut&#x017F;chland nicht zur Herr&#x017F;chaft<lb/>
gelangte, &#x017F;o trieben auch die dramati&#x017F;chen Dichter nach Willkür und Laune<lb/>
ihr We&#x017F;en, Jeder von vorn beginnend, Jeder bemüht durch neue Kün&#x017F;te<lb/>
und Kün&#x017F;teleien alle Anderen zu übertreffen. Un&#x017F;ere Bühne bot ein<lb/>
Bild der Anarchie, das freilich auch allen Zauber der ungebundenen Frei-<lb/>
heit zeigte. Nicmand hat die kleinliche Zer&#x017F;plitterung des deut&#x017F;chen Lebens<lb/>
und ihre verderbliche Einwirkung auf die Kun&#x017F;t &#x017F;chmerzlicher empfunden<lb/>
als Goethe. Ueber &#x017F;einen Wilhelm Mei&#x017F;ter &#x017F;agte er geradezu: da habe<lb/>
er nun &#x201E;den allerelende&#x017F;ten Stoff, Komödianten und Landedelleute&#x201C; wählen<lb/>&#x017F;&#x017F;en, weil die deut&#x017F;che Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft dem Dichter keinen be&#x017F;&#x017F;eren biete;<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[202/0218] I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. Bauern des Hochgebirges geſtaltete er das verklärte Bild eines großen Freiheitskrieges und legte Alles darin nieder was nur ein hoher Sinn über die ewigen Rechte des Menſchen, über den Muth und Einmuth freier Völker zu ſagen vermag. Der Tell ſollte bald für unſer politiſches Leben noch folgenreicher werden als einſt Klopſtocks Bardengeſänge. An dieſem Gedichte vornehmlich nährte das heranwachſende Geſchlecht ſeine Begeiſterung für Freiheit und Vaterland; die ganz dramatiſch gedachte Mahnung: „ſeid einig, einig, einig!“ erſchien den jungen Schwärmern wie ein heiliges Vermächtniß des Dichters an ſein eignes Volk. Die nationale Bühne freilich, worauf ſeit Leſſing alle unſere Drama- tiker hofften, iſt auch durch Schiller den Deutſchen nicht geſchenkt worden, weil kein einzelner Mann ſie zu ſchaffen vermochte. Schiller ſtrebte nach einem nationalen Stile, der das Echte und Große der älteren Dramatik, den Geſtaltenreichthum, die bewegte Handlung und die tiefe Charakteriſtik Shakeſpeares, den lyriſchen Schwung der antiken, und die ſtrenge Com- poſition der franzöſiſchen Tragödie bewußt und ſelbſtändig in ſich ver- einigen und darum dem Charakter unſerer neuen Bildung entſprechen ſollte. Aber es fehlte dem Dichter der lebendige Verkehr mit dem Volke. Nur der brauſende Jubelruf einer großſtädtiſchen Hörerſchaft zeigt dem Dramatiker, wann er das Allen Gemeine, das wahrhaft Volksthümliche gefunden hat. Die Handvoll trübſeliger Kleinbürger im Parterre des Weimariſchen Theaterſchuppens waren kein Volk, und die vornehmen Schöngeiſter in den Logen des Hofes zollten den Experimenten geiſtreich ſpielender Willkür den gleichen, ja vielleicht noch lebhafteren Beifall wie dem einfach Großen. Es fehlte den Deutſchen überhaupt, wie Goethe klagte, „eine Nationalcultur, die den Dichter zwingt die Eigenheiten ſeines Genies ihr zu unterwerfen“. Faſt nur gebend, wenig empfangend ſtanden die Dioskuren von Weimar ihrem Volke gegenüber, das ſie erſt empor- hoben zu reinerer Bildung. Darum ſind Beide nach mannichfachen Ver- ſuchen mit Trilogien und Einzeldramen, mit Jamben und Reimpaaren, mit Chorgeſängen und melodramatiſchen Einlagen doch nicht dahin gelangt für unſer Drama eine Kunſtform zu ſchaffen, die als die nationale an- erkannt wurde. Wie die feierliche, übertrieben pathetiſche Declamation der Weimariſchen Schauſpieler im übrigen Deutſchland nicht zur Herrſchaft gelangte, ſo trieben auch die dramatiſchen Dichter nach Willkür und Laune ihr Weſen, Jeder von vorn beginnend, Jeder bemüht durch neue Künſte und Künſteleien alle Anderen zu übertreffen. Unſere Bühne bot ein Bild der Anarchie, das freilich auch allen Zauber der ungebundenen Frei- heit zeigte. Nicmand hat die kleinliche Zerſplitterung des deutſchen Lebens und ihre verderbliche Einwirkung auf die Kunſt ſchmerzlicher empfunden als Goethe. Ueber ſeinen Wilhelm Meiſter ſagte er geradezu: da habe er nun „den allerelendeſten Stoff, Komödianten und Landedelleute“ wählen müſſen, weil die deutſche Geſellſchaft dem Dichter keinen beſſeren biete;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/218
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/218>, abgerufen am 26.04.2024.