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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Kant. Schillers Jugend.
der volle langanhaltende Athemzug der Leidenschaft und der gewaltig
aufsteigende Gang der Handlung ließen schon ahnen, daß Deutschland
seinen größten Dramatiker gefunden hatte -- einen dictatorischen, zum
Herrschen und Siegen geborenen Geist, der jetzt in den Tagen jugend-
licher Gährung seinen Hörern das Wilde und Gräßliche unwiderstehlich
aufzwang und nachher, gereift und geläutert, die Tausende mit sich empor-
riß über die gemeine Bedürftigkeit des Lebens. Aus der lärmenden Rhetorik
dieser Tragödien sprach eine Welt von neuen Gedanken, glühende Sehn-
sucht nach Freiheit und der Haß einer großen Seele wider die starren
Formen der alten Gesellschaft; Rousseaus Schriften und die politische Be-
wegung der Nachbarlande warfen bereits ihre ersten Funken nach Deutsch-
land hinüber. Ein Verächter alles Platten, Engen, Alltäglichen, strebte
dieser Sohn des kleinbürgerlichen Schwabenländchens hinaus in die großen
Kämpfe der historischen Welt; er zuerst band unserer dramatischen Muse
den Kothurn an die Sohlen, führte sie unter Könige und Helden, auf
die Höhen der Menschheit.

Neben solchem Reichthum der Kunst und der Wissenschaft erscheint
die eigentlich politische Literatur unheimlich klein und dürftig. Wie noch
jede große Umgestaltung unseres geistigen Lebens in den Schicksalen einer
deutschen Universität sich widergespiegelt hat, so läßt sich auch wohl ein
Zusammenhang nachweisen zwischen den Anfängen unserer classischen
Literatur und der ersten Blüthe der Georgia Augusta. Die eifrige Pflege
der Rechts- und Staatswissenschaften, die von Göttingen ausging, stand
in Wechselwirkung mit der großen Gedankenströmung des Jahrhunderts,
die sich überall den exacten Wissenschaften ab- und der Freiheit der
historischen Welt zuwandte. Und es war lebendiges Recht was die Göt-
tinger Publicisten lehrten; die Rechte des Protestantismus und der welt-
lichen Reichsstände gegen die schattenhaften Ansprüche des Kaiserthums
zu vertheidigen galt als Ehrenpflicht der welfischen Professoren. Doch
weder Schlözers derber Freimuth noch Pütters Sammlerfleiß, weder die
Gelehrsamkeit der beiden Moser noch irgend eine andere unter den vielen
stattlichen publicistischen Erscheinungen der Zeit trägt den Stempel des
Genies. Keine Spur von Pufendorfs kühnem Weitblick, keine Spur von
jener schöpferischen Kritik, welche die Dichter mit feurigem Odem be-
rührte; nichts von der köstlichen Prägnanz des Ausdruckes, die uns an
der schönen Literatur der Zeit entzückt: neben dem Silbertone Lessingscher
und Goethescher Prosa giebt die Sprache Pütters einen blechernen Klang.

Während die deutsche Dichtkunst und Philosophie die Werke der Nach-
barvölker überflügelte, behielten in der Staatswissenschaft Engländer und
Franzosen die Führung. An der großen politischen Gedankenbewegung
des Jahrhunderts nahm Deutschland einen wirksamen Antheil allein
durch die Thaten und die Schriften des großen Königs, den der literarische
Aufschwung seines Volkes nicht berührte. Wie schwach sind selbst in

Kant. Schillers Jugend.
der volle langanhaltende Athemzug der Leidenſchaft und der gewaltig
aufſteigende Gang der Handlung ließen ſchon ahnen, daß Deutſchland
ſeinen größten Dramatiker gefunden hatte — einen dictatoriſchen, zum
Herrſchen und Siegen geborenen Geiſt, der jetzt in den Tagen jugend-
licher Gährung ſeinen Hörern das Wilde und Gräßliche unwiderſtehlich
aufzwang und nachher, gereift und geläutert, die Tauſende mit ſich empor-
riß über die gemeine Bedürftigkeit des Lebens. Aus der lärmenden Rhetorik
dieſer Tragödien ſprach eine Welt von neuen Gedanken, glühende Sehn-
ſucht nach Freiheit und der Haß einer großen Seele wider die ſtarren
Formen der alten Geſellſchaft; Rouſſeaus Schriften und die politiſche Be-
wegung der Nachbarlande warfen bereits ihre erſten Funken nach Deutſch-
land hinüber. Ein Verächter alles Platten, Engen, Alltäglichen, ſtrebte
dieſer Sohn des kleinbürgerlichen Schwabenländchens hinaus in die großen
Kämpfe der hiſtoriſchen Welt; er zuerſt band unſerer dramatiſchen Muſe
den Kothurn an die Sohlen, führte ſie unter Könige und Helden, auf
die Höhen der Menſchheit.

Neben ſolchem Reichthum der Kunſt und der Wiſſenſchaft erſcheint
die eigentlich politiſche Literatur unheimlich klein und dürftig. Wie noch
jede große Umgeſtaltung unſeres geiſtigen Lebens in den Schickſalen einer
deutſchen Univerſität ſich widergeſpiegelt hat, ſo läßt ſich auch wohl ein
Zuſammenhang nachweiſen zwiſchen den Anfängen unſerer claſſiſchen
Literatur und der erſten Blüthe der Georgia Auguſta. Die eifrige Pflege
der Rechts- und Staatswiſſenſchaften, die von Göttingen ausging, ſtand
in Wechſelwirkung mit der großen Gedankenſtrömung des Jahrhunderts,
die ſich überall den exacten Wiſſenſchaften ab- und der Freiheit der
hiſtoriſchen Welt zuwandte. Und es war lebendiges Recht was die Göt-
tinger Publiciſten lehrten; die Rechte des Proteſtantismus und der welt-
lichen Reichsſtände gegen die ſchattenhaften Anſprüche des Kaiſerthums
zu vertheidigen galt als Ehrenpflicht der welfiſchen Profeſſoren. Doch
weder Schlözers derber Freimuth noch Pütters Sammlerfleiß, weder die
Gelehrſamkeit der beiden Moſer noch irgend eine andere unter den vielen
ſtattlichen publiciſtiſchen Erſcheinungen der Zeit trägt den Stempel des
Genies. Keine Spur von Pufendorfs kühnem Weitblick, keine Spur von
jener ſchöpferiſchen Kritik, welche die Dichter mit feurigem Odem be-
rührte; nichts von der köſtlichen Prägnanz des Ausdruckes, die uns an
der ſchönen Literatur der Zeit entzückt: neben dem Silbertone Leſſingſcher
und Goetheſcher Proſa giebt die Sprache Pütters einen blechernen Klang.

Während die deutſche Dichtkunſt und Philoſophie die Werke der Nach-
barvölker überflügelte, behielten in der Staatswiſſenſchaft Engländer und
Franzoſen die Führung. An der großen politiſchen Gedankenbewegung
des Jahrhunderts nahm Deutſchland einen wirkſamen Antheil allein
durch die Thaten und die Schriften des großen Königs, den der literariſche
Aufſchwung ſeines Volkes nicht berührte. Wie ſchwach ſind ſelbſt in

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[101/0117] Kant. Schillers Jugend. der volle langanhaltende Athemzug der Leidenſchaft und der gewaltig aufſteigende Gang der Handlung ließen ſchon ahnen, daß Deutſchland ſeinen größten Dramatiker gefunden hatte — einen dictatoriſchen, zum Herrſchen und Siegen geborenen Geiſt, der jetzt in den Tagen jugend- licher Gährung ſeinen Hörern das Wilde und Gräßliche unwiderſtehlich aufzwang und nachher, gereift und geläutert, die Tauſende mit ſich empor- riß über die gemeine Bedürftigkeit des Lebens. Aus der lärmenden Rhetorik dieſer Tragödien ſprach eine Welt von neuen Gedanken, glühende Sehn- ſucht nach Freiheit und der Haß einer großen Seele wider die ſtarren Formen der alten Geſellſchaft; Rouſſeaus Schriften und die politiſche Be- wegung der Nachbarlande warfen bereits ihre erſten Funken nach Deutſch- land hinüber. Ein Verächter alles Platten, Engen, Alltäglichen, ſtrebte dieſer Sohn des kleinbürgerlichen Schwabenländchens hinaus in die großen Kämpfe der hiſtoriſchen Welt; er zuerſt band unſerer dramatiſchen Muſe den Kothurn an die Sohlen, führte ſie unter Könige und Helden, auf die Höhen der Menſchheit. Neben ſolchem Reichthum der Kunſt und der Wiſſenſchaft erſcheint die eigentlich politiſche Literatur unheimlich klein und dürftig. Wie noch jede große Umgeſtaltung unſeres geiſtigen Lebens in den Schickſalen einer deutſchen Univerſität ſich widergeſpiegelt hat, ſo läßt ſich auch wohl ein Zuſammenhang nachweiſen zwiſchen den Anfängen unſerer claſſiſchen Literatur und der erſten Blüthe der Georgia Auguſta. Die eifrige Pflege der Rechts- und Staatswiſſenſchaften, die von Göttingen ausging, ſtand in Wechſelwirkung mit der großen Gedankenſtrömung des Jahrhunderts, die ſich überall den exacten Wiſſenſchaften ab- und der Freiheit der hiſtoriſchen Welt zuwandte. Und es war lebendiges Recht was die Göt- tinger Publiciſten lehrten; die Rechte des Proteſtantismus und der welt- lichen Reichsſtände gegen die ſchattenhaften Anſprüche des Kaiſerthums zu vertheidigen galt als Ehrenpflicht der welfiſchen Profeſſoren. Doch weder Schlözers derber Freimuth noch Pütters Sammlerfleiß, weder die Gelehrſamkeit der beiden Moſer noch irgend eine andere unter den vielen ſtattlichen publiciſtiſchen Erſcheinungen der Zeit trägt den Stempel des Genies. Keine Spur von Pufendorfs kühnem Weitblick, keine Spur von jener ſchöpferiſchen Kritik, welche die Dichter mit feurigem Odem be- rührte; nichts von der köſtlichen Prägnanz des Ausdruckes, die uns an der ſchönen Literatur der Zeit entzückt: neben dem Silbertone Leſſingſcher und Goetheſcher Proſa giebt die Sprache Pütters einen blechernen Klang. Während die deutſche Dichtkunſt und Philoſophie die Werke der Nach- barvölker überflügelte, behielten in der Staatswiſſenſchaft Engländer und Franzoſen die Führung. An der großen politiſchen Gedankenbewegung des Jahrhunderts nahm Deutſchland einen wirkſamen Antheil allein durch die Thaten und die Schriften des großen Königs, den der literariſche Aufſchwung ſeines Volkes nicht berührte. Wie ſchwach ſind ſelbſt in

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/117>, abgerufen am 26.04.2024.