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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Deutsche und französische Aufklärung.
genossenschaften wurde und auch für die kühnsten Wagnisse der Philosophie
noch einen Raum bot, daß die religiöse Duldung allmählich in alle
Lebensgewohnheiten der Deutschen drang, zahlreiche gemischte Ehen und
bald auch gemischte Schulen den kirchlichen Frieden dieses paritätischen
Volkes sicherten.

Nur diese Wiedererhebung des deutschen Protestantismus erklärt
jene eigenthümlichsten Charakterzüge der neuen deutschen Cultur, welche
den meisten Nicht-Germanen und selbst den Engländern räthselhaft
bleiben; nur sie hat es ermöglicht, daß der Deutsche zugleich fromm und
frei sein konnte, daß seine Literatur protestantisch wurde und doch nicht
confessionell. Der englisch-französischen Aufklärung steht es auf der
Stirn geschrieben, daß sie emporkam im Kampfe mit der Herrschsucht
unfreier Kirchen und der finsteren Hartgläubigkeit dumpfer Volksmassen;
selbst der Deismus der Briten ist irreligiös, denn sein Gott redet nicht
zum Gewissen, versieht nur das Amt des großen Maschinenmeisters der
Welt. Die deutsche Aufklärung dagegen wurzelte fest im Protestantismus;
sie ging der kirchlichen Ueberlieferung mit noch schärferen Waffen zu Leibe
als die Philosophie der Nachbarvölker, doch die Kühnheit ihrer Kritik ward
ermäßigt durch eine tiefe Ehrfurcht vor der Religion. Sie weckte die
Gewissen, welche der englisch-französische Materialismus einschläferte; sie
bewahrte sich den Glauben an den persönlichen Gott und an den letzten
Zweck der vollkommenen Welt, die unsterbliche Seele des Menschen.
Der fanatische Kirchenhaß und die mechanische Weltanschauung der fran-
zösischen Philosophen erschienen den Deutschen als ein Zeichen der Un-
freiheit; mit Widerwillen wendete sich Lessing von Voltaires Spöttereien,
und der Student Goethe lachte mit der Selbstgewißheit der zukunftsfrohen
Jugend über die greisenhafte Langeweile des Systeme de la nature.
Das evangelische Pfarrhaus behauptete das achtzehnte Jahrhundert hin-
durch noch seinen alten wohlthätigen Einfluß auf das deutsche Leben,
nahm an dem Schaffen der neuen Literatur warmen Antheil. Wenn
unsere Kunst nicht zum Besitzthume des ganzen Volkes zu werden vermochte,
so danken wir doch der Verjüngung des deutschen Protestantismus den
großen Segen, daß die sittlichen Anschauungen der Höchstgebildeten
Fühlung behielten mit dem Gewissen der Masse, daß endlich Kants Ethik
auf die evangelischen Kanzeln und bis in die niedrigsten Schichten des
norddeutschen Volkes drang. Die sittliche Kluft zwischen den Höhen und
den Tiefen der Gesellschaft war in Deutschland schmäler als in den Län-
dern des Westens.

Diese erste Epoche der modernen deutschen Literatur trägt noch einen
hart prosaischen Zug. Gelehrte stehen an der Spitze der Bewegung; die
Dichtung wird von dem Geiste der neuen Tage noch kaum berührt: nur
in Schlüters Bauten und Bildsäulen, in den Tonwerken von Bach und
Händel tritt der heldenhafte Charakter des Zeitalters groß und frei hervor.

Deutſche und franzöſiſche Aufklärung.
genoſſenſchaften wurde und auch für die kühnſten Wagniſſe der Philoſophie
noch einen Raum bot, daß die religiöſe Duldung allmählich in alle
Lebensgewohnheiten der Deutſchen drang, zahlreiche gemiſchte Ehen und
bald auch gemiſchte Schulen den kirchlichen Frieden dieſes paritätiſchen
Volkes ſicherten.

Nur dieſe Wiedererhebung des deutſchen Proteſtantismus erklärt
jene eigenthümlichſten Charakterzüge der neuen deutſchen Cultur, welche
den meiſten Nicht-Germanen und ſelbſt den Engländern räthſelhaft
bleiben; nur ſie hat es ermöglicht, daß der Deutſche zugleich fromm und
frei ſein konnte, daß ſeine Literatur proteſtantiſch wurde und doch nicht
confeſſionell. Der engliſch-franzöſiſchen Aufklärung ſteht es auf der
Stirn geſchrieben, daß ſie emporkam im Kampfe mit der Herrſchſucht
unfreier Kirchen und der finſteren Hartgläubigkeit dumpfer Volksmaſſen;
ſelbſt der Deismus der Briten iſt irreligiös, denn ſein Gott redet nicht
zum Gewiſſen, verſieht nur das Amt des großen Maſchinenmeiſters der
Welt. Die deutſche Aufklärung dagegen wurzelte feſt im Proteſtantismus;
ſie ging der kirchlichen Ueberlieferung mit noch ſchärferen Waffen zu Leibe
als die Philoſophie der Nachbarvölker, doch die Kühnheit ihrer Kritik ward
ermäßigt durch eine tiefe Ehrfurcht vor der Religion. Sie weckte die
Gewiſſen, welche der engliſch-franzöſiſche Materialismus einſchläferte; ſie
bewahrte ſich den Glauben an den perſönlichen Gott und an den letzten
Zweck der vollkommenen Welt, die unſterbliche Seele des Menſchen.
Der fanatiſche Kirchenhaß und die mechaniſche Weltanſchauung der fran-
zöſiſchen Philoſophen erſchienen den Deutſchen als ein Zeichen der Un-
freiheit; mit Widerwillen wendete ſich Leſſing von Voltaires Spöttereien,
und der Student Goethe lachte mit der Selbſtgewißheit der zukunftsfrohen
Jugend über die greiſenhafte Langeweile des Système de la nature.
Das evangeliſche Pfarrhaus behauptete das achtzehnte Jahrhundert hin-
durch noch ſeinen alten wohlthätigen Einfluß auf das deutſche Leben,
nahm an dem Schaffen der neuen Literatur warmen Antheil. Wenn
unſere Kunſt nicht zum Beſitzthume des ganzen Volkes zu werden vermochte,
ſo danken wir doch der Verjüngung des deutſchen Proteſtantismus den
großen Segen, daß die ſittlichen Anſchauungen der Höchſtgebildeten
Fühlung behielten mit dem Gewiſſen der Maſſe, daß endlich Kants Ethik
auf die evangeliſchen Kanzeln und bis in die niedrigſten Schichten des
norddeutſchen Volkes drang. Die ſittliche Kluft zwiſchen den Höhen und
den Tiefen der Geſellſchaft war in Deutſchland ſchmäler als in den Län-
dern des Weſtens.

Dieſe erſte Epoche der modernen deutſchen Literatur trägt noch einen
hart proſaiſchen Zug. Gelehrte ſtehen an der Spitze der Bewegung; die
Dichtung wird von dem Geiſte der neuen Tage noch kaum berührt: nur
in Schlüters Bauten und Bildſäulen, in den Tonwerken von Bach und
Händel tritt der heldenhafte Charakter des Zeitalters groß und frei hervor.

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[93/0109] Deutſche und franzöſiſche Aufklärung. genoſſenſchaften wurde und auch für die kühnſten Wagniſſe der Philoſophie noch einen Raum bot, daß die religiöſe Duldung allmählich in alle Lebensgewohnheiten der Deutſchen drang, zahlreiche gemiſchte Ehen und bald auch gemiſchte Schulen den kirchlichen Frieden dieſes paritätiſchen Volkes ſicherten. Nur dieſe Wiedererhebung des deutſchen Proteſtantismus erklärt jene eigenthümlichſten Charakterzüge der neuen deutſchen Cultur, welche den meiſten Nicht-Germanen und ſelbſt den Engländern räthſelhaft bleiben; nur ſie hat es ermöglicht, daß der Deutſche zugleich fromm und frei ſein konnte, daß ſeine Literatur proteſtantiſch wurde und doch nicht confeſſionell. Der engliſch-franzöſiſchen Aufklärung ſteht es auf der Stirn geſchrieben, daß ſie emporkam im Kampfe mit der Herrſchſucht unfreier Kirchen und der finſteren Hartgläubigkeit dumpfer Volksmaſſen; ſelbſt der Deismus der Briten iſt irreligiös, denn ſein Gott redet nicht zum Gewiſſen, verſieht nur das Amt des großen Maſchinenmeiſters der Welt. Die deutſche Aufklärung dagegen wurzelte feſt im Proteſtantismus; ſie ging der kirchlichen Ueberlieferung mit noch ſchärferen Waffen zu Leibe als die Philoſophie der Nachbarvölker, doch die Kühnheit ihrer Kritik ward ermäßigt durch eine tiefe Ehrfurcht vor der Religion. Sie weckte die Gewiſſen, welche der engliſch-franzöſiſche Materialismus einſchläferte; ſie bewahrte ſich den Glauben an den perſönlichen Gott und an den letzten Zweck der vollkommenen Welt, die unſterbliche Seele des Menſchen. Der fanatiſche Kirchenhaß und die mechaniſche Weltanſchauung der fran- zöſiſchen Philoſophen erſchienen den Deutſchen als ein Zeichen der Un- freiheit; mit Widerwillen wendete ſich Leſſing von Voltaires Spöttereien, und der Student Goethe lachte mit der Selbſtgewißheit der zukunftsfrohen Jugend über die greiſenhafte Langeweile des Système de la nature. Das evangeliſche Pfarrhaus behauptete das achtzehnte Jahrhundert hin- durch noch ſeinen alten wohlthätigen Einfluß auf das deutſche Leben, nahm an dem Schaffen der neuen Literatur warmen Antheil. Wenn unſere Kunſt nicht zum Beſitzthume des ganzen Volkes zu werden vermochte, ſo danken wir doch der Verjüngung des deutſchen Proteſtantismus den großen Segen, daß die ſittlichen Anſchauungen der Höchſtgebildeten Fühlung behielten mit dem Gewiſſen der Maſſe, daß endlich Kants Ethik auf die evangeliſchen Kanzeln und bis in die niedrigſten Schichten des norddeutſchen Volkes drang. Die ſittliche Kluft zwiſchen den Höhen und den Tiefen der Geſellſchaft war in Deutſchland ſchmäler als in den Län- dern des Weſtens. Dieſe erſte Epoche der modernen deutſchen Literatur trägt noch einen hart proſaiſchen Zug. Gelehrte ſtehen an der Spitze der Bewegung; die Dichtung wird von dem Geiſte der neuen Tage noch kaum berührt: nur in Schlüters Bauten und Bildſäulen, in den Tonwerken von Bach und Händel tritt der heldenhafte Charakter des Zeitalters groß und frei hervor.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/109>, abgerufen am 27.04.2024.