Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Trakl, Georg: Gedichte. Leipzig, 1913.

Bild:
<< vorherige Seite
MENSCHLICHES ELEND
Die Uhr, die vor der Sonne fünfe schlägt -
Einsame Menschen packt ein dunkles Grausen,
Im Abendgarten kahle Bäume sausen.
Des Toten Antlitz sich am Fenster regt.
Vielleicht, daß diese Stunde stille steht.
Vor trüben Augen blaue Bilder gaukeln
Im Takt der Schiffe, die am Flusse schaukeln.
Am Kai ein Schwesternzug vorüberweht.
Im Hasel spielen Mädchen blaß und blind,
Wie Liebende, die sich im Schlaf umschlingen.
Vielleicht, daß um ein Aas dort Fliegen singen,
Vielleicht auch weint im Mutterschoß ein Kind.
Aus Händen sinken Astern blau und rot,
Des Jünglings Mund entgleitet fremd und weise;
Und Lider flattern angstverwirrt und leise;
Durch Fieberschwärze weht ein Duft von Brot.
Es scheint, man hört auch gräßliches Geschrei;
Gebeine durch verfallne Mauern schimmern.
Ein böses Herz lacht laut in schönen Zimmern;
An einem Träumer läuft ein Hund vorbei.
Ein leerer Sarg im Dunkel sich verliert.
Dem Mörder will ein Raum sich bleich erhellen,
Indes Laternen nachts im Sturm zerschellen.
Des Edlen weiße Schläfe Lorbeer ziert.
MENSCHLICHES ELEND
Die Uhr, die vor der Sonne fünfe schlägt –
Einsame Menschen packt ein dunkles Grausen,
Im Abendgarten kahle Bäume sausen.
Des Toten Antlitz sich am Fenster regt.
Vielleicht, daß diese Stunde stille steht.
Vor trüben Augen blaue Bilder gaukeln
Im Takt der Schiffe, die am Flusse schaukeln.
Am Kai ein Schwesternzug vorüberweht.
Im Hasel spielen Mädchen blaß und blind,
Wie Liebende, die sich im Schlaf umschlingen.
Vielleicht, daß um ein Aas dort Fliegen singen,
Vielleicht auch weint im Mutterschoß ein Kind.
Aus Händen sinken Astern blau und rot,
Des Jünglings Mund entgleitet fremd und weise;
Und Lider flattern angstverwirrt und leise;
Durch Fieberschwärze weht ein Duft von Brot.
Es scheint, man hört auch gräßliches Geschrei;
Gebeine durch verfallne Mauern schimmern.
Ein böses Herz lacht laut in schönen Zimmern;
An einem Träumer läuft ein Hund vorbei.
Ein leerer Sarg im Dunkel sich verliert.
Dem Mörder will ein Raum sich bleich erhellen,
Indes Laternen nachts im Sturm zerschellen.
Des Edlen weiße Schläfe Lorbeer ziert.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0052" n="54"/>
      <div n="1">
        <lg type="poem">
          <head>MENSCHLICHES ELEND</head><lb/>
          <lg n="1">
            <l>Die Uhr, die vor der Sonne fünfe schlägt &#x2013;</l><lb/>
            <l>Einsame Menschen packt ein dunkles Grausen,</l><lb/>
            <l>Im Abendgarten kahle Bäume sausen.</l><lb/>
            <l>Des Toten Antlitz sich am Fenster regt.</l><lb/>
          </lg>
          <lg n="2">
            <l>Vielleicht, daß diese Stunde stille steht.</l><lb/>
            <l>Vor trüben Augen blaue Bilder gaukeln</l><lb/>
            <l>Im Takt der Schiffe, die am Flusse schaukeln.</l><lb/>
            <l>Am Kai ein Schwesternzug vorüberweht.</l><lb/>
          </lg>
          <lg n="3">
            <l>Im Hasel spielen Mädchen blaß und blind,</l><lb/>
            <l>Wie Liebende, die sich im Schlaf umschlingen.</l><lb/>
            <l>Vielleicht, daß um ein Aas dort Fliegen singen,</l><lb/>
            <l>Vielleicht auch weint im Mutterschoß ein Kind.</l><lb/>
          </lg>
          <lg n="4">
            <l>Aus Händen sinken Astern blau und rot,</l><lb/>
            <l>Des Jünglings Mund entgleitet fremd und weise;</l><lb/>
            <l>Und Lider flattern angstverwirrt und leise;</l><lb/>
            <l>Durch Fieberschwärze weht ein Duft von Brot.</l><lb/>
          </lg>
          <lg n="5">
            <l>Es scheint, man hört auch gräßliches Geschrei;</l><lb/>
            <l>Gebeine durch verfallne Mauern schimmern.</l><lb/>
            <l>Ein böses Herz lacht laut in schönen Zimmern;</l><lb/>
            <l>An einem Träumer läuft ein Hund vorbei.</l><lb/>
          </lg>
          <lg n="6">
            <l>Ein leerer Sarg im Dunkel sich verliert.</l><lb/>
            <l>Dem Mörder will ein Raum sich bleich erhellen,</l><lb/>
            <l>Indes Laternen nachts im Sturm zerschellen.</l><lb/>
            <l>Des Edlen weiße Schläfe Lorbeer ziert.</l><lb/>
          </lg>
        </lg>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[54/0052] MENSCHLICHES ELEND Die Uhr, die vor der Sonne fünfe schlägt – Einsame Menschen packt ein dunkles Grausen, Im Abendgarten kahle Bäume sausen. Des Toten Antlitz sich am Fenster regt. Vielleicht, daß diese Stunde stille steht. Vor trüben Augen blaue Bilder gaukeln Im Takt der Schiffe, die am Flusse schaukeln. Am Kai ein Schwesternzug vorüberweht. Im Hasel spielen Mädchen blaß und blind, Wie Liebende, die sich im Schlaf umschlingen. Vielleicht, daß um ein Aas dort Fliegen singen, Vielleicht auch weint im Mutterschoß ein Kind. Aus Händen sinken Astern blau und rot, Des Jünglings Mund entgleitet fremd und weise; Und Lider flattern angstverwirrt und leise; Durch Fieberschwärze weht ein Duft von Brot. Es scheint, man hört auch gräßliches Geschrei; Gebeine durch verfallne Mauern schimmern. Ein böses Herz lacht laut in schönen Zimmern; An einem Träumer läuft ein Hund vorbei. Ein leerer Sarg im Dunkel sich verliert. Dem Mörder will ein Raum sich bleich erhellen, Indes Laternen nachts im Sturm zerschellen. Des Edlen weiße Schläfe Lorbeer ziert.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2013-03-14T09:09:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-03-14T09:09:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2013-03-14T09:09:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/trakl_gedichte_1913
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/trakl_gedichte_1913/52
Zitationshilfe: Trakl, Georg: Gedichte. Leipzig, 1913, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/trakl_gedichte_1913/52>, abgerufen am 21.11.2024.