Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

und Greise, Schutzgenossen und Knechte als integrirende
Theile in sich.

§ 28.

Es ergibt sich aus allen Vordersätzen dieser Erörte-
rung, dass jede Corporation oder Verbindung von Menschen
sowohl als eine Art von Organismus oder organischem Kunst-
werk, wie auch als eine Art von Werkzeug oder Maschine
aufgefasst werden kann. Denn in Wirklichkeit ist die Es-
senz eines solchen Dinges nichts Anderes, als bestehender,
gemeinsamer Wesenwille, oder constituirte gemeinsame
Willkür, beides nicht mehr in seiner Vielheit, sondern in
seiner Einheit begriffen und gedacht. Wenn wir den Namen
der Genossenschaft auf den ersten Begriff (einer gemein-
schaftlichen Verbindung), den des Vereines auf den an-
deren (einer gesellschaftlichen Verbindung) anwenden, so folgt,
dass eine Genossenschaft als Naturproduct nur beschrieben
und als ein Gewordenes durch seine Abstammung und durch
die Bedingungen seiner Entwicklung begriffen werden kann.
Dies bezieht sich folglich auch auf den Begriff eines Ge-
meinwesens. Hingegen ein Verein ist ein in Gedanken ge-
machtes oder fingirtes Wesen, welches seinen Urhebern
dient, um ihre gemeinsame Willkür in irgendwelchen Be-
ziehungen auszudrücken: nach dem Zwecke, wofür er als
Mittel und Ursache bestimmt ist, muss hier in erster Linie
gefragt werden. Und hiervon wird die Anwendung gemacht
auf den Begriff des Staates als des allgemeinen gesell-
schaftlichen Vereines. -- Die psychologische oder metaphy-
sische Essenz einer Genossenschaft, und folglich eines Ge-
meinwesens, geht immer darin auf, Wille zu sein, d. h.
Leben zu haben und in einem -- der Dauer nach unbe-
grenzten -- Zusammenleben seiner Mitglieder zu bestehen.
Sie führt daher immer zurück auf die ursprüngliche Einheit
der Wesenwillen, welche ich Verständniss genannt
habe, und wie auch immer sie sich aus diesem entwickelt
hat, so ist jedesmal ihr Inhalt so gross, als die Kraft, mit
der sie sich im Dasein behauptet; und dieser Inhalt, als
Sitte und Recht, hat mithin unbedingte und ewige Gültig-
keit für die Mitglieder, welche erst aus ihm ihr eigenes

und Greise, Schutzgenossen und Knechte als integrirende
Theile in sich.

§ 28.

Es ergibt sich aus allen Vordersätzen dieser Erörte-
rung, dass jede Corporation oder Verbindung von Menschen
sowohl als eine Art von Organismus oder organischem Kunst-
werk, wie auch als eine Art von Werkzeug oder Maschine
aufgefasst werden kann. Denn in Wirklichkeit ist die Es-
senz eines solchen Dinges nichts Anderes, als bestehender,
gemeinsamer Wesenwille, oder constituirte gemeinsame
Willkür, beides nicht mehr in seiner Vielheit, sondern in
seiner Einheit begriffen und gedacht. Wenn wir den Namen
der Genossenschaft auf den ersten Begriff (einer gemein-
schaftlichen Verbindung), den des Vereines auf den an-
deren (einer gesellschaftlichen Verbindung) anwenden, so folgt,
dass eine Genossenschaft als Naturproduct nur beschrieben
und als ein Gewordenes durch seine Abstammung und durch
die Bedingungen seiner Entwicklung begriffen werden kann.
Dies bezieht sich folglich auch auf den Begriff eines Ge-
meinwesens. Hingegen ein Verein ist ein in Gedanken ge-
machtes oder fingirtes Wesen, welches seinen Urhebern
dient, um ihre gemeinsame Willkür in irgendwelchen Be-
ziehungen auszudrücken: nach dem Zwecke, wofür er als
Mittel und Ursache bestimmt ist, muss hier in erster Linie
gefragt werden. Und hiervon wird die Anwendung gemacht
auf den Begriff des Staates als des allgemeinen gesell-
schaftlichen Vereines. — Die psychologische oder metaphy-
sische Essenz einer Genossenschaft, und folglich eines Ge-
meinwesens, geht immer darin auf, Wille zu sein, d. h.
Leben zu haben und in einem — der Dauer nach unbe-
grenzten — Zusammenleben seiner Mitglieder zu bestehen.
Sie führt daher immer zurück auf die ursprüngliche Einheit
der Wesenwillen, welche ich Verständniss genannt
habe, und wie auch immer sie sich aus diesem entwickelt
hat, so ist jedesmal ihr Inhalt so gross, als die Kraft, mit
der sie sich im Dasein behauptet; und dieser Inhalt, als
Sitte und Recht, hat mithin unbedingte und ewige Gültig-
keit für die Mitglieder, welche erst aus ihm ihr eigenes

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0297" n="261"/>
und Greise, Schutzgenossen und Knechte als integrirende<lb/>
Theile in sich.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§ 28.</head><lb/>
            <p>Es ergibt sich aus allen Vordersätzen dieser Erörte-<lb/>
rung, dass jede Corporation oder Verbindung von Menschen<lb/>
sowohl als eine Art von Organismus oder organischem Kunst-<lb/>
werk, wie auch als eine Art von Werkzeug oder Maschine<lb/>
aufgefasst werden kann. Denn in Wirklichkeit ist die Es-<lb/>
senz eines solchen Dinges nichts Anderes, als bestehender,<lb/>
gemeinsamer Wesenwille, oder constituirte gemeinsame<lb/>
Willkür, beides nicht mehr in seiner Vielheit, sondern in<lb/>
seiner Einheit begriffen und gedacht. Wenn wir den Namen<lb/>
der <hi rendition="#g">Genossenschaft</hi> auf den ersten Begriff (einer gemein-<lb/>
schaftlichen Verbindung), den des <hi rendition="#g">Vereines</hi> auf den an-<lb/>
deren (einer gesellschaftlichen Verbindung) anwenden, so folgt,<lb/>
dass eine Genossenschaft als Naturproduct nur beschrieben<lb/>
und als ein Gewordenes durch seine Abstammung und durch<lb/>
die Bedingungen seiner Entwicklung begriffen werden kann.<lb/>
Dies bezieht sich folglich auch auf den Begriff eines Ge-<lb/>
meinwesens. Hingegen ein Verein ist ein in Gedanken ge-<lb/>
machtes oder fingirtes Wesen, welches seinen Urhebern<lb/>
dient, um ihre gemeinsame Willkür in irgendwelchen Be-<lb/>
ziehungen auszudrücken: nach dem Zwecke, wofür er als<lb/>
Mittel und Ursache bestimmt ist, muss hier in erster Linie<lb/>
gefragt werden. Und hiervon wird die Anwendung gemacht<lb/>
auf den Begriff des <hi rendition="#g">Staates</hi> als des allgemeinen gesell-<lb/>
schaftlichen Vereines. &#x2014; Die psychologische oder metaphy-<lb/>
sische Essenz einer Genossenschaft, und folglich eines Ge-<lb/>
meinwesens, geht immer darin auf, Wille zu sein, d. h.<lb/>
Leben zu haben und in einem &#x2014; der Dauer nach unbe-<lb/>
grenzten &#x2014; Zusammenleben seiner Mitglieder zu bestehen.<lb/>
Sie führt daher immer zurück auf die ursprüngliche Einheit<lb/>
der Wesenwillen, welche ich <hi rendition="#g">Verständniss</hi> genannt<lb/>
habe, und wie auch immer sie sich aus diesem entwickelt<lb/>
hat, so ist jedesmal ihr Inhalt so gross, als die Kraft, mit<lb/>
der sie sich im Dasein behauptet; und dieser Inhalt, als<lb/>
Sitte und Recht, hat mithin unbedingte und ewige Gültig-<lb/>
keit für die Mitglieder, welche erst aus ihm ihr eigenes<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[261/0297] und Greise, Schutzgenossen und Knechte als integrirende Theile in sich. § 28. Es ergibt sich aus allen Vordersätzen dieser Erörte- rung, dass jede Corporation oder Verbindung von Menschen sowohl als eine Art von Organismus oder organischem Kunst- werk, wie auch als eine Art von Werkzeug oder Maschine aufgefasst werden kann. Denn in Wirklichkeit ist die Es- senz eines solchen Dinges nichts Anderes, als bestehender, gemeinsamer Wesenwille, oder constituirte gemeinsame Willkür, beides nicht mehr in seiner Vielheit, sondern in seiner Einheit begriffen und gedacht. Wenn wir den Namen der Genossenschaft auf den ersten Begriff (einer gemein- schaftlichen Verbindung), den des Vereines auf den an- deren (einer gesellschaftlichen Verbindung) anwenden, so folgt, dass eine Genossenschaft als Naturproduct nur beschrieben und als ein Gewordenes durch seine Abstammung und durch die Bedingungen seiner Entwicklung begriffen werden kann. Dies bezieht sich folglich auch auf den Begriff eines Ge- meinwesens. Hingegen ein Verein ist ein in Gedanken ge- machtes oder fingirtes Wesen, welches seinen Urhebern dient, um ihre gemeinsame Willkür in irgendwelchen Be- ziehungen auszudrücken: nach dem Zwecke, wofür er als Mittel und Ursache bestimmt ist, muss hier in erster Linie gefragt werden. Und hiervon wird die Anwendung gemacht auf den Begriff des Staates als des allgemeinen gesell- schaftlichen Vereines. — Die psychologische oder metaphy- sische Essenz einer Genossenschaft, und folglich eines Ge- meinwesens, geht immer darin auf, Wille zu sein, d. h. Leben zu haben und in einem — der Dauer nach unbe- grenzten — Zusammenleben seiner Mitglieder zu bestehen. Sie führt daher immer zurück auf die ursprüngliche Einheit der Wesenwillen, welche ich Verständniss genannt habe, und wie auch immer sie sich aus diesem entwickelt hat, so ist jedesmal ihr Inhalt so gross, als die Kraft, mit der sie sich im Dasein behauptet; und dieser Inhalt, als Sitte und Recht, hat mithin unbedingte und ewige Gültig- keit für die Mitglieder, welche erst aus ihm ihr eigenes

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/297
Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/297>, abgerufen am 20.12.2024.