Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite
Vorrede.

Der Gegensatz der historischen gegen die rationa-
listische Auffassung ist im Laufe dieses Jahrhunderts in alle
Gebiete der Social- oder Cultur-Wissenschaften eingedrungen.
Derselbe trifft an seiner Wurzel zusammen mit dem Angriff
des Empirismus und der kritischen Philosophie auf das sta-
bilirte System des Rationalismus, wie es in Deutschland durch
die Wolfische Schule seine feste Darstellung gefunden hatte.
Ein Verhältniss zu diesen Methoden zu gewinnen, ist daher
auch für den gegenwärtigen Versuch einer neuen Ana-
lyse der Grundprobleme des socialen Lebens
von
nicht geringer Bedeutung.

Es ist paradox zu sagen, dass der Empirismus, un-
geachtet des Sieges, welchen diese Ansicht in so entscheidender
Weise davongetragen hat, zugleich die formelle Vollendung
des Rationalismus sei. Und doch ist dies gerade bei der
Kantischen Erkenntnisslehre, welche, mit dem Anspruche
auftretend, die Gegensätze zu vereinigen, ihrem Inhalte nach
ebensosehr modificirter Empirismus als modificirter Ratio-
nalismus ist, am deutlichsten. Deutlich schon im reinen Em-
pirisnius Hume's; denn auch er untersucht nicht, ob es all-
gemeine und nothwendige Erkenntniss in Bezug auf Thatsachen
und Causalität in Wirklichkeit gebe, sondern er deducirt
ihre Unmöglichkeit aus Begriffen, wie später Kant ihre Wirk-
lichkeit und folglich ihre Möglichkeit deduciren zu können
glaubt. Beide verfahren auf rationalistische Weise, mit

Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. II
Vorrede.

Der Gegensatz der historischen gegen die rationa-
listische Auffassung ist im Laufe dieses Jahrhunderts in alle
Gebiete der Social- oder Cultur-Wissenschaften eingedrungen.
Derselbe trifft an seiner Wurzel zusammen mit dem Angriff
des Empirismus und der kritischen Philosophie auf das sta-
bilirte System des Rationalismus, wie es in Deutschland durch
die Wolfische Schule seine feste Darstellung gefunden hatte.
Ein Verhältniss zu diesen Methoden zu gewinnen, ist daher
auch für den gegenwärtigen Versuch einer neuen Ana-
lyse der Grundprobleme des socialen Lebens
von
nicht geringer Bedeutung.

Es ist paradox zu sagen, dass der Empirismus, un-
geachtet des Sieges, welchen diese Ansicht in so entscheidender
Weise davongetragen hat, zugleich die formelle Vollendung
des Rationalismus sei. Und doch ist dies gerade bei der
Kantischen Erkenntnisslehre, welche, mit dem Anspruche
auftretend, die Gegensätze zu vereinigen, ihrem Inhalte nach
ebensosehr modificirter Empirismus als modificirter Ratio-
nalismus ist, am deutlichsten. Deutlich schon im reinen Em-
pirisnius Hume’s; denn auch er untersucht nicht, ob es all-
gemeine und nothwendige Erkenntniss in Bezug auf Thatsachen
und Causalität in Wirklichkeit gebe, sondern er deducirt
ihre Unmöglichkeit aus Begriffen, wie später Kant ihre Wirk-
lichkeit und folglich ihre Möglichkeit deduciren zu können
glaubt. Beide verfahren auf rationalistische Weise, mit

Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. II
<TEI>
  <text>
    <front>
      <pb facs="#f0023" n="[XVII]"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#i">Vorrede.</hi> </head><lb/>
        <p> <hi rendition="#i"><hi rendition="#in">D</hi>er Gegensatz der historischen gegen die rationa-<lb/>
listische Auffassung ist im Laufe dieses Jahrhunderts in alle<lb/>
Gebiete der Social- oder Cultur-Wissenschaften eingedrungen.<lb/>
Derselbe trifft an seiner Wurzel zusammen mit dem Angriff<lb/>
des Empirismus und der kritischen Philosophie auf das sta-<lb/>
bilirte System des Rationalismus, wie es in Deutschland durch<lb/>
die <hi rendition="#g">Wolfische</hi> Schule seine feste Darstellung gefunden hatte.<lb/>
Ein Verhältniss zu diesen Methoden zu gewinnen, ist daher<lb/>
auch für den gegenwärtigen <hi rendition="#g">Versuch einer neuen Ana-<lb/>
lyse der Grundprobleme des socialen Lebens</hi> von<lb/>
nicht geringer Bedeutung.</hi> </p><lb/>
        <p> <hi rendition="#i">Es ist paradox zu sagen, dass der Empirismus, un-<lb/>
geachtet des Sieges, welchen diese Ansicht in so entscheidender<lb/>
Weise davongetragen hat, zugleich die formelle Vollendung<lb/>
des Rationalismus sei. Und doch ist dies gerade bei der<lb/><hi rendition="#g">Kantischen</hi> Erkenntnisslehre, welche, mit dem Anspruche<lb/>
auftretend, die Gegensätze zu vereinigen, ihrem Inhalte nach<lb/>
ebensosehr modificirter Empirismus als modificirter Ratio-<lb/>
nalismus ist, am deutlichsten. Deutlich schon im reinen Em-<lb/>
pirisnius <hi rendition="#g"><hi rendition="#k">Hume</hi></hi>&#x2019;s; denn auch er untersucht nicht, ob es all-<lb/>
gemeine und nothwendige Erkenntniss in Bezug auf Thatsachen<lb/>
und Causalität in Wirklichkeit <hi rendition="#g">gebe</hi>, sondern er deducirt<lb/>
ihre Unmöglichkeit aus Begriffen, wie später <hi rendition="#k">Kant</hi> ihre Wirk-<lb/>
lichkeit und folglich ihre Möglichkeit deduciren zu können<lb/>
glaubt. Beide <hi rendition="#g">verfahren</hi> auf rationalistische Weise, mit</hi><lb/>
          <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Tönnies</hi>, Gemeinschaft und Gesellschaft. II</fw><lb/>
        </p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[[XVII]/0023] Vorrede. Der Gegensatz der historischen gegen die rationa- listische Auffassung ist im Laufe dieses Jahrhunderts in alle Gebiete der Social- oder Cultur-Wissenschaften eingedrungen. Derselbe trifft an seiner Wurzel zusammen mit dem Angriff des Empirismus und der kritischen Philosophie auf das sta- bilirte System des Rationalismus, wie es in Deutschland durch die Wolfische Schule seine feste Darstellung gefunden hatte. Ein Verhältniss zu diesen Methoden zu gewinnen, ist daher auch für den gegenwärtigen Versuch einer neuen Ana- lyse der Grundprobleme des socialen Lebens von nicht geringer Bedeutung. Es ist paradox zu sagen, dass der Empirismus, un- geachtet des Sieges, welchen diese Ansicht in so entscheidender Weise davongetragen hat, zugleich die formelle Vollendung des Rationalismus sei. Und doch ist dies gerade bei der Kantischen Erkenntnisslehre, welche, mit dem Anspruche auftretend, die Gegensätze zu vereinigen, ihrem Inhalte nach ebensosehr modificirter Empirismus als modificirter Ratio- nalismus ist, am deutlichsten. Deutlich schon im reinen Em- pirisnius Hume’s; denn auch er untersucht nicht, ob es all- gemeine und nothwendige Erkenntniss in Bezug auf Thatsachen und Causalität in Wirklichkeit gebe, sondern er deducirt ihre Unmöglichkeit aus Begriffen, wie später Kant ihre Wirk- lichkeit und folglich ihre Möglichkeit deduciren zu können glaubt. Beide verfahren auf rationalistische Weise, mit Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. II

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/23
Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. [XVII]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/23>, abgerufen am 20.12.2024.