Der Gegensatz der historischen gegen die rationa- listische Auffassung ist im Laufe dieses Jahrhunderts in alle Gebiete der Social- oder Cultur-Wissenschaften eingedrungen. Derselbe trifft an seiner Wurzel zusammen mit dem Angriff des Empirismus und der kritischen Philosophie auf das sta- bilirte System des Rationalismus, wie es in Deutschland durch die Wolfische Schule seine feste Darstellung gefunden hatte. Ein Verhältniss zu diesen Methoden zu gewinnen, ist daher auch für den gegenwärtigen Versuch einer neuen Ana- lyse der Grundprobleme des socialen Lebens von nicht geringer Bedeutung.
Es ist paradox zu sagen, dass der Empirismus, un- geachtet des Sieges, welchen diese Ansicht in so entscheidender Weise davongetragen hat, zugleich die formelle Vollendung des Rationalismus sei. Und doch ist dies gerade bei der Kantischen Erkenntnisslehre, welche, mit dem Anspruche auftretend, die Gegensätze zu vereinigen, ihrem Inhalte nach ebensosehr modificirter Empirismus als modificirter Ratio- nalismus ist, am deutlichsten. Deutlich schon im reinen Em- pirisnius Hume's; denn auch er untersucht nicht, ob es all- gemeine und nothwendige Erkenntniss in Bezug auf Thatsachen und Causalität in Wirklichkeit gebe, sondern er deducirt ihre Unmöglichkeit aus Begriffen, wie später Kant ihre Wirk- lichkeit und folglich ihre Möglichkeit deduciren zu können glaubt. Beide verfahren auf rationalistische Weise, mit
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. II
Vorrede.
Der Gegensatz der historischen gegen die rationa- listische Auffassung ist im Laufe dieses Jahrhunderts in alle Gebiete der Social- oder Cultur-Wissenschaften eingedrungen. Derselbe trifft an seiner Wurzel zusammen mit dem Angriff des Empirismus und der kritischen Philosophie auf das sta- bilirte System des Rationalismus, wie es in Deutschland durch die Wolfische Schule seine feste Darstellung gefunden hatte. Ein Verhältniss zu diesen Methoden zu gewinnen, ist daher auch für den gegenwärtigen Versuch einer neuen Ana- lyse der Grundprobleme des socialen Lebens von nicht geringer Bedeutung.
Es ist paradox zu sagen, dass der Empirismus, un- geachtet des Sieges, welchen diese Ansicht in so entscheidender Weise davongetragen hat, zugleich die formelle Vollendung des Rationalismus sei. Und doch ist dies gerade bei der Kantischen Erkenntnisslehre, welche, mit dem Anspruche auftretend, die Gegensätze zu vereinigen, ihrem Inhalte nach ebensosehr modificirter Empirismus als modificirter Ratio- nalismus ist, am deutlichsten. Deutlich schon im reinen Em- pirisnius Hume’s; denn auch er untersucht nicht, ob es all- gemeine und nothwendige Erkenntniss in Bezug auf Thatsachen und Causalität in Wirklichkeit gebe, sondern er deducirt ihre Unmöglichkeit aus Begriffen, wie später Kant ihre Wirk- lichkeit und folglich ihre Möglichkeit deduciren zu können glaubt. Beide verfahren auf rationalistische Weise, mit
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. II
<TEI><text><front><pbfacs="#f0023"n="[XVII]"/><divn="1"><head><hirendition="#i">Vorrede.</hi></head><lb/><p><hirendition="#i"><hirendition="#in">D</hi>er Gegensatz der historischen gegen die rationa-<lb/>
listische Auffassung ist im Laufe dieses Jahrhunderts in alle<lb/>
Gebiete der Social- oder Cultur-Wissenschaften eingedrungen.<lb/>
Derselbe trifft an seiner Wurzel zusammen mit dem Angriff<lb/>
des Empirismus und der kritischen Philosophie auf das sta-<lb/>
bilirte System des Rationalismus, wie es in Deutschland durch<lb/>
die <hirendition="#g">Wolfische</hi> Schule seine feste Darstellung gefunden hatte.<lb/>
Ein Verhältniss zu diesen Methoden zu gewinnen, ist daher<lb/>
auch für den gegenwärtigen <hirendition="#g">Versuch einer neuen Ana-<lb/>
lyse der Grundprobleme des socialen Lebens</hi> von<lb/>
nicht geringer Bedeutung.</hi></p><lb/><p><hirendition="#i">Es ist paradox zu sagen, dass der Empirismus, un-<lb/>
geachtet des Sieges, welchen diese Ansicht in so entscheidender<lb/>
Weise davongetragen hat, zugleich die formelle Vollendung<lb/>
des Rationalismus sei. Und doch ist dies gerade bei der<lb/><hirendition="#g">Kantischen</hi> Erkenntnisslehre, welche, mit dem Anspruche<lb/>
auftretend, die Gegensätze zu vereinigen, ihrem Inhalte nach<lb/>
ebensosehr modificirter Empirismus als modificirter Ratio-<lb/>
nalismus ist, am deutlichsten. Deutlich schon im reinen Em-<lb/>
pirisnius <hirendition="#g"><hirendition="#k">Hume</hi></hi>’s; denn auch er untersucht nicht, ob es all-<lb/>
gemeine und nothwendige Erkenntniss in Bezug auf Thatsachen<lb/>
und Causalität in Wirklichkeit <hirendition="#g">gebe</hi>, sondern er deducirt<lb/>
ihre Unmöglichkeit aus Begriffen, wie später <hirendition="#k">Kant</hi> ihre Wirk-<lb/>
lichkeit und folglich ihre Möglichkeit deduciren zu können<lb/>
glaubt. Beide <hirendition="#g">verfahren</hi> auf rationalistische Weise, mit</hi><lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Tönnies</hi>, Gemeinschaft und Gesellschaft. II</fw><lb/></p></div></front></text></TEI>
[[XVII]/0023]
Vorrede.
Der Gegensatz der historischen gegen die rationa-
listische Auffassung ist im Laufe dieses Jahrhunderts in alle
Gebiete der Social- oder Cultur-Wissenschaften eingedrungen.
Derselbe trifft an seiner Wurzel zusammen mit dem Angriff
des Empirismus und der kritischen Philosophie auf das sta-
bilirte System des Rationalismus, wie es in Deutschland durch
die Wolfische Schule seine feste Darstellung gefunden hatte.
Ein Verhältniss zu diesen Methoden zu gewinnen, ist daher
auch für den gegenwärtigen Versuch einer neuen Ana-
lyse der Grundprobleme des socialen Lebens von
nicht geringer Bedeutung.
Es ist paradox zu sagen, dass der Empirismus, un-
geachtet des Sieges, welchen diese Ansicht in so entscheidender
Weise davongetragen hat, zugleich die formelle Vollendung
des Rationalismus sei. Und doch ist dies gerade bei der
Kantischen Erkenntnisslehre, welche, mit dem Anspruche
auftretend, die Gegensätze zu vereinigen, ihrem Inhalte nach
ebensosehr modificirter Empirismus als modificirter Ratio-
nalismus ist, am deutlichsten. Deutlich schon im reinen Em-
pirisnius Hume’s; denn auch er untersucht nicht, ob es all-
gemeine und nothwendige Erkenntniss in Bezug auf Thatsachen
und Causalität in Wirklichkeit gebe, sondern er deducirt
ihre Unmöglichkeit aus Begriffen, wie später Kant ihre Wirk-
lichkeit und folglich ihre Möglichkeit deduciren zu können
glaubt. Beide verfahren auf rationalistische Weise, mit
Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. II
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. [XVII]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/23>, abgerufen am 20.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.