Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite
§ 18.

Uebrigens aber sind, wie bekannt, die Gesetze der
Association von Ideen überaus mannigfaltig, weil ihre
möglichen Berührungen und Zusammenhänge unzählige sind;
indessen wird eben dieses zu wenig geschätzt: dass die in-
dividuellen Dispositionen und Fähigkeiten, von dem Einen
auf das Andere überzugehen, aus dem Einen das Andere
zu erzeugen, höchst verschiedene und mit der gesammten
Constitution des Leibes und Geistes, wie sie durch alle
Erlebnisse und Erfahrungen hindurch sich ausgebildet hat,
verwachsen, weil daraus hervorgegangen sind. Denn im
Grossen und Ganzen denkt ein Jeder an seine eigenen
Angelegenheiten, und wenn er sich Gedanken macht, so
sind es Sorgen oder Hoffnungen; wenn nicht Zweifel und
Ueberlegungen, was zu thun sei und wie es auf richtige
Weise zu thun sei. Das ist: den Mittelpunkt seiner men-
talen Thätigkeit bildet seine sonstige gewöhnliche und ob-
liegende Beschäftigung, daher seine Aufgabe und Pflicht,
frühere, gegenwärtige und bevorstehende Function, sein
Werk und seine Kunst. Und gerade darum kann Ge-
dächtniss
als eine Form des Wesenwillens bezeichnet
werden, weil es Pflichtgefühl ist, oder eine Stimme und
Vernunft, die das Nothwendige und Richtige in solchem
Werke anzeigt, Erinnerung dessen, was man gelernt, er-
fahren, gedacht hat und als einen Schatz in sich bewahrt,
ganz eigentlich ein nous praktikos, opinio necessitatis, kate-
gorischer Imperativ. Mithin auch in seiner vollkommenen
Gestalt, identisch mit dem, was wir als Gewissen oder
als Genius begreifen. Hier ist nichts Geheimnissvolles im
Spiele: ausser sofern organisches Wollen an sich dunkel,
irrational und Ursache seiner selbst ist. Denn diese beson-
deren Fähigkeiten sind -- freilich einerseits angeboren,
dann aber geworden als -- feste Associationen, und wenn
in Thätigkeiten übergehend, so beweisen sie dadurch nur
die Stärke ihrer Tendenz oder ihres Conatus. Denn viele
Conate streiten und wetteifern oft mit einander, und schon
indem man an etwas Ausführbares denkt, so ist man in
Versuchung und fühlt einen Antrieb, es zu thun; aber auch
die blosse Wahrnehmung kann genügen, um die Glieder
und Muskeln in Bewegung zu setzen, und um so mehr, je

§ 18.

Uebrigens aber sind, wie bekannt, die Gesetze der
Association von Ideen überaus mannigfaltig, weil ihre
möglichen Berührungen und Zusammenhänge unzählige sind;
indessen wird eben dieses zu wenig geschätzt: dass die in-
dividuellen Dispositionen und Fähigkeiten, von dem Einen
auf das Andere überzugehen, aus dem Einen das Andere
zu erzeugen, höchst verschiedene und mit der gesammten
Constitution des Leibes und Geistes, wie sie durch alle
Erlebnisse und Erfahrungen hindurch sich ausgebildet hat,
verwachsen, weil daraus hervorgegangen sind. Denn im
Grossen und Ganzen denkt ein Jeder an seine eigenen
Angelegenheiten, und wenn er sich Gedanken macht, so
sind es Sorgen oder Hoffnungen; wenn nicht Zweifel und
Ueberlegungen, was zu thun sei und wie es auf richtige
Weise zu thun sei. Das ist: den Mittelpunkt seiner men-
talen Thätigkeit bildet seine sonstige gewöhnliche und ob-
liegende Beschäftigung, daher seine Aufgabe und Pflicht,
frühere, gegenwärtige und bevorstehende Function, sein
Werk und seine Kunst. Und gerade darum kann Ge-
dächtniss
als eine Form des Wesenwillens bezeichnet
werden, weil es Pflichtgefühl ist, oder eine Stimme und
Vernunft, die das Nothwendige und Richtige in solchem
Werke anzeigt, Erinnerung dessen, was man gelernt, er-
fahren, gedacht hat und als einen Schatz in sich bewahrt,
ganz eigentlich ein νοῦς πϱακτικός, opinio necessitatis, kate-
gorischer Imperativ. Mithin auch in seiner vollkommenen
Gestalt, identisch mit dem, was wir als Gewissen oder
als Genius begreifen. Hier ist nichts Geheimnissvolles im
Spiele: ausser sofern organisches Wollen an sich dunkel,
irrational und Ursache seiner selbst ist. Denn diese beson-
deren Fähigkeiten sind — freilich einerseits angeboren,
dann aber geworden als — feste Associationen, und wenn
in Thätigkeiten übergehend, so beweisen sie dadurch nur
die Stärke ihrer Tendenz oder ihres Conatus. Denn viele
Conate streiten und wetteifern oft mit einander, und schon
indem man an etwas Ausführbares denkt, so ist man in
Versuchung und fühlt einen Antrieb, es zu thun; aber auch
die blosse Wahrnehmung kann genügen, um die Glieder
und Muskeln in Bewegung zu setzen, und um so mehr, je

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0177" n="141"/>
          <div n="3">
            <head>§ 18.</head><lb/>
            <p>Uebrigens aber sind, wie bekannt, die Gesetze der<lb/><hi rendition="#g">Association von Ideen</hi> überaus mannigfaltig, weil ihre<lb/>
möglichen Berührungen und Zusammenhänge unzählige sind;<lb/>
indessen wird eben dieses zu wenig geschätzt: dass die in-<lb/>
dividuellen Dispositionen und Fähigkeiten, von dem Einen<lb/>
auf das Andere überzugehen, aus dem Einen das Andere<lb/>
zu erzeugen, höchst verschiedene und mit der gesammten<lb/>
Constitution des Leibes und Geistes, wie sie durch alle<lb/>
Erlebnisse und Erfahrungen hindurch sich ausgebildet hat,<lb/>
verwachsen, weil daraus hervorgegangen sind. Denn im<lb/>
Grossen und Ganzen denkt ein Jeder an seine <hi rendition="#g">eigenen</hi><lb/>
Angelegenheiten, und wenn er sich Gedanken macht, so<lb/>
sind es Sorgen oder Hoffnungen; wenn nicht Zweifel und<lb/>
Ueberlegungen, was zu thun sei und wie es auf richtige<lb/>
Weise zu thun sei. Das ist: den Mittelpunkt seiner men-<lb/>
talen Thätigkeit bildet seine sonstige gewöhnliche und ob-<lb/>
liegende Beschäftigung, daher seine Aufgabe und Pflicht,<lb/>
frühere, gegenwärtige und bevorstehende Function, sein<lb/>
Werk und seine Kunst. Und gerade darum kann <hi rendition="#g">Ge-<lb/>
dächtniss</hi> als eine Form des Wesenwillens bezeichnet<lb/>
werden, weil es <hi rendition="#g">Pflichtgefühl</hi> ist, oder eine Stimme und<lb/>
Vernunft, die das Nothwendige und Richtige in solchem<lb/>
Werke anzeigt, Erinnerung dessen, was man gelernt, er-<lb/>
fahren, gedacht hat und als einen Schatz in sich bewahrt,<lb/>
ganz eigentlich ein &#x03BD;&#x03BF;&#x1FE6;&#x03C2; &#x03C0;&#x03F1;&#x03B1;&#x03BA;&#x03C4;&#x03B9;&#x03BA;&#x03CC;&#x03C2;, <hi rendition="#i">opinio necessitatis</hi>, kate-<lb/>
gorischer Imperativ. Mithin auch in seiner vollkommenen<lb/>
Gestalt, identisch mit dem, was wir als <hi rendition="#g">Gewissen</hi> oder<lb/>
als Genius begreifen. Hier ist nichts Geheimnissvolles im<lb/>
Spiele: ausser sofern organisches Wollen an sich dunkel,<lb/>
irrational und Ursache seiner selbst ist. Denn diese beson-<lb/>
deren Fähigkeiten sind &#x2014; freilich einerseits angeboren,<lb/>
dann aber geworden als &#x2014; feste Associationen, und wenn<lb/>
in Thätigkeiten übergehend, so beweisen sie dadurch nur<lb/>
die Stärke ihrer Tendenz oder ihres Conatus. Denn viele<lb/>
Conate streiten und wetteifern oft mit einander, und schon<lb/>
indem man an etwas Ausführbares <hi rendition="#g">denkt</hi>, so ist man in<lb/>
Versuchung und fühlt einen Antrieb, es zu thun; aber auch<lb/>
die blosse Wahrnehmung kann genügen, um die Glieder<lb/>
und Muskeln in Bewegung zu setzen, und um so mehr, je<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[141/0177] § 18. Uebrigens aber sind, wie bekannt, die Gesetze der Association von Ideen überaus mannigfaltig, weil ihre möglichen Berührungen und Zusammenhänge unzählige sind; indessen wird eben dieses zu wenig geschätzt: dass die in- dividuellen Dispositionen und Fähigkeiten, von dem Einen auf das Andere überzugehen, aus dem Einen das Andere zu erzeugen, höchst verschiedene und mit der gesammten Constitution des Leibes und Geistes, wie sie durch alle Erlebnisse und Erfahrungen hindurch sich ausgebildet hat, verwachsen, weil daraus hervorgegangen sind. Denn im Grossen und Ganzen denkt ein Jeder an seine eigenen Angelegenheiten, und wenn er sich Gedanken macht, so sind es Sorgen oder Hoffnungen; wenn nicht Zweifel und Ueberlegungen, was zu thun sei und wie es auf richtige Weise zu thun sei. Das ist: den Mittelpunkt seiner men- talen Thätigkeit bildet seine sonstige gewöhnliche und ob- liegende Beschäftigung, daher seine Aufgabe und Pflicht, frühere, gegenwärtige und bevorstehende Function, sein Werk und seine Kunst. Und gerade darum kann Ge- dächtniss als eine Form des Wesenwillens bezeichnet werden, weil es Pflichtgefühl ist, oder eine Stimme und Vernunft, die das Nothwendige und Richtige in solchem Werke anzeigt, Erinnerung dessen, was man gelernt, er- fahren, gedacht hat und als einen Schatz in sich bewahrt, ganz eigentlich ein νοῦς πϱακτικός, opinio necessitatis, kate- gorischer Imperativ. Mithin auch in seiner vollkommenen Gestalt, identisch mit dem, was wir als Gewissen oder als Genius begreifen. Hier ist nichts Geheimnissvolles im Spiele: ausser sofern organisches Wollen an sich dunkel, irrational und Ursache seiner selbst ist. Denn diese beson- deren Fähigkeiten sind — freilich einerseits angeboren, dann aber geworden als — feste Associationen, und wenn in Thätigkeiten übergehend, so beweisen sie dadurch nur die Stärke ihrer Tendenz oder ihres Conatus. Denn viele Conate streiten und wetteifern oft mit einander, und schon indem man an etwas Ausführbares denkt, so ist man in Versuchung und fühlt einen Antrieb, es zu thun; aber auch die blosse Wahrnehmung kann genügen, um die Glieder und Muskeln in Bewegung zu setzen, und um so mehr, je

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/177
Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/177>, abgerufen am 20.12.2024.