Ich lebe nicht auf Erden, Um glücklich hier zu werden; Die Lust der Welt vergeht: Ich lebe, hier im Segen Den Grund zum Glück zu legen, Das ewig, wie mein Geist, besteht.
Vor dir, o Gott! ist Freude die Fülle, und liebliches Wesen zu deiner Rechten ewiglich: vor und um uns her aber ist Gram und Mangel verbreitet. Der Same des Kummers er- stirbt nicht in unsrer Brust, so sehr wir auch nach immerwäh- renden Freuden schmachten. Bei uns ist der Wechsel von Lust und Unlust abändernd, gleich den Jahreszeiten; und schnell, wie bei jetzigen kurzen Tagen der Abend dem Morgen folgt. Auch bei mir war heute nicht jede Minute gleich heiter. War ich etwa verdrießlich, wenn mir meine Lust gestöret ward? -- Ach! ich weiß nicht, was mir gut ist!
Unsre meiste Freuden sind sinnlich, und werden der Seele durch den Körper zugeführet: dieser aber ist sehr hinfällig, und wird es immer mehr, je schneller und häufiger er uns das Ver- gnügen zuführen soll. Die Freude erschüttert unsre Nerven: verlangen wir zu viel von ihnen, so bereiten sie uns bittre Reue zu. Sie gleichen unsern Augen, welche nur ein gemäßigtes Licht ertragen können, und beim vollen Glanz der Sonne ihre Dienste versagen. Rechne ich hinzu, daß ich in einer so armen als gieri- gen Welt lebe, welche immer was abfodert und nichts gutwillig hergeben mag; ferner, daß ich mit Sünden und ihren Folgen rund umgeben bin: so darf es mich im geringsten nicht befremden, daß jeder Tag für mich seine eigene Plage hat. Hier ist noch nicht das Land, wo ich mich laut und lange freuen könte: ich
muß
B 3
Der 10te Januar.
Ich lebe nicht auf Erden, Um gluͤcklich hier zu werden; Die Luſt der Welt vergeht: Ich lebe, hier im Segen Den Grund zum Gluͤck zu legen, Das ewig, wie mein Geiſt, beſteht.
Vor dir, o Gott! iſt Freude die Fuͤlle, und liebliches Weſen zu deiner Rechten ewiglich: vor und um uns her aber iſt Gram und Mangel verbreitet. Der Same des Kummers er- ſtirbt nicht in unſrer Bruſt, ſo ſehr wir auch nach immerwaͤh- renden Freuden ſchmachten. Bei uns iſt der Wechſel von Luſt und Unluſt abaͤndernd, gleich den Jahreszeiten; und ſchnell, wie bei jetzigen kurzen Tagen der Abend dem Morgen folgt. Auch bei mir war heute nicht jede Minute gleich heiter. War ich etwa verdrießlich, wenn mir meine Luſt geſtoͤret ward? — Ach! ich weiß nicht, was mir gut iſt!
Unſre meiſte Freuden ſind ſinnlich, und werden der Seele durch den Koͤrper zugefuͤhret: dieſer aber iſt ſehr hinfaͤllig, und wird es immer mehr, je ſchneller und haͤufiger er uns das Ver- gnuͤgen zufuͤhren ſoll. Die Freude erſchuͤttert unſre Nerven: verlangen wir zu viel von ihnen, ſo bereiten ſie uns bittre Reue zu. Sie gleichen unſern Augen, welche nur ein gemaͤßigtes Licht ertragen koͤnnen, und beim vollen Glanz der Sonne ihre Dienſte verſagen. Rechne ich hinzu, daß ich in einer ſo armen als gieri- gen Welt lebe, welche immer was abfodert und nichts gutwillig hergeben mag; ferner, daß ich mit Suͤnden und ihren Folgen rund umgeben bin: ſo darf es mich im geringſten nicht befremden, daß jeder Tag fuͤr mich ſeine eigene Plage hat. Hier iſt noch nicht das Land, wo ich mich laut und lange freuen koͤnte: ich
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[21[51]/0058]
Der 10te Januar.
Ich lebe nicht auf Erden,
Um gluͤcklich hier zu werden;
Die Luſt der Welt vergeht:
Ich lebe, hier im Segen
Den Grund zum Gluͤck zu legen,
Das ewig, wie mein Geiſt, beſteht.
Vor dir, o Gott! iſt Freude die Fuͤlle, und liebliches Weſen
zu deiner Rechten ewiglich: vor und um uns her aber iſt
Gram und Mangel verbreitet. Der Same des Kummers er-
ſtirbt nicht in unſrer Bruſt, ſo ſehr wir auch nach immerwaͤh-
renden Freuden ſchmachten. Bei uns iſt der Wechſel von
Luſt und Unluſt abaͤndernd, gleich den Jahreszeiten; und
ſchnell, wie bei jetzigen kurzen Tagen der Abend dem Morgen
folgt. Auch bei mir war heute nicht jede Minute gleich heiter.
War ich etwa verdrießlich, wenn mir meine Luſt geſtoͤret ward?
— Ach! ich weiß nicht, was mir gut iſt!
Unſre meiſte Freuden ſind ſinnlich, und werden der Seele
durch den Koͤrper zugefuͤhret: dieſer aber iſt ſehr hinfaͤllig, und
wird es immer mehr, je ſchneller und haͤufiger er uns das Ver-
gnuͤgen zufuͤhren ſoll. Die Freude erſchuͤttert unſre Nerven:
verlangen wir zu viel von ihnen, ſo bereiten ſie uns bittre Reue
zu. Sie gleichen unſern Augen, welche nur ein gemaͤßigtes Licht
ertragen koͤnnen, und beim vollen Glanz der Sonne ihre Dienſte
verſagen. Rechne ich hinzu, daß ich in einer ſo armen als gieri-
gen Welt lebe, welche immer was abfodert und nichts gutwillig
hergeben mag; ferner, daß ich mit Suͤnden und ihren Folgen
rund umgeben bin: ſo darf es mich im geringſten nicht befremden,
daß jeder Tag fuͤr mich ſeine eigene Plage hat. Hier iſt noch
nicht das Land, wo ich mich laut und lange freuen koͤnte: ich
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 21[51]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/58>, abgerufen am 21.11.2024.
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