Herr! wer merkts, wie oft er fehle? Auch ich hab heut oft gefehlt! Thörigt, wenn ich dirs verheele; Dir, der selbst Gedanken zählt!
Auch mein Gedankenregister ward heute genau gelesen und untersuchet. Und wenn ich mich von allem Umgang mit gottlosen Menschen enthalten, und keine sündliche Hand- lung wissentlich begangen hätte: so bin ich doch noch lange nicht rein vor dir, der du meine Gedanken von ferne verstehst! Dir, mein Gott! solten ja alle meine Vorstellungen, die inner- sten Triebe meines Herzens und jeder aufwallende Gedanke ge- heiliget, und der Würde des Christenthums gemas seyn! Aber, unter den vielen tausend Gedanken, welche meine Seele heute schnell untereiander dachte: wie viele sind ihrer doch, deren ich mich jetzt erfreuen könte, und deren ich mich noch in der Ewig- keit mit Vergnügen erinnern dürfte? Freilich wird kein Mensch mich ihrentwegen zur Rede setzen: vor ihnen sind meine Gedan- ken zollfrei. Aber vor dir, allwissender Herzenskündiger! sind sie es wahrhaftig nicht: vor dir sind sie Handlung und That! Mein Gedankenregister ist ein Foliant, der nur im Himmel ge- lesen wird.
Erwarte ich es zuversichtlich von dir, daß du an jenem Tage mehr auf meinen guten Willen, als auf meine mangelhafte Werke; mehr auf meine gute Absichten, als auf ihre mir unmög- lich gewordene Ausführung sehen werdest; bin ich überzeugt, daß du auch die letzten Seufzer meines mit dem Tode kämpfenden Herzens, und die sehnsuchtsvollen Blicke meiner brechenden Au-
gen
Der 5te Januar.
Herr! wer merkts, wie oft er fehle? Auch ich hab heut oft gefehlt! Thoͤrigt, wenn ich dirs verheele; Dir, der ſelbſt Gedanken zaͤhlt!
Auch mein Gedankenregiſter ward heute genau geleſen und unterſuchet. Und wenn ich mich von allem Umgang mit gottloſen Menſchen enthalten, und keine ſuͤndliche Hand- lung wiſſentlich begangen haͤtte: ſo bin ich doch noch lange nicht rein vor dir, der du meine Gedanken von ferne verſtehſt! Dir, mein Gott! ſolten ja alle meine Vorſtellungen, die inner- ſten Triebe meines Herzens und jeder aufwallende Gedanke ge- heiliget, und der Wuͤrde des Chriſtenthums gemas ſeyn! Aber, unter den vielen tauſend Gedanken, welche meine Seele heute ſchnell untereiander dachte: wie viele ſind ihrer doch, deren ich mich jetzt erfreuen koͤnte, und deren ich mich noch in der Ewig- keit mit Vergnuͤgen erinnern duͤrfte? Freilich wird kein Menſch mich ihrentwegen zur Rede ſetzen: vor ihnen ſind meine Gedan- ken zollfrei. Aber vor dir, allwiſſender Herzenskuͤndiger! ſind ſie es wahrhaftig nicht: vor dir ſind ſie Handlung und That! Mein Gedankenregiſter iſt ein Foliant, der nur im Himmel ge- leſen wird.
Erwarte ich es zuverſichtlich von dir, daß du an jenem Tage mehr auf meinen guten Willen, als auf meine mangelhafte Werke; mehr auf meine gute Abſichten, als auf ihre mir unmoͤg- lich gewordene Ausfuͤhrung ſehen werdeſt; bin ich uͤberzeugt, daß du auch die letzten Seufzer meines mit dem Tode kaͤmpfenden Herzens, und die ſehnſuchtsvollen Blicke meiner brechenden Au-
gen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0048"n="11[41]"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b">Der 5<hirendition="#sup">te</hi> Januar.</hi></head><lb/><lgtype="poem"><l><hirendition="#in">H</hi>err! wer merkts, wie oft er fehle?</l><lb/><l>Auch ich hab heut oft gefehlt!</l><lb/><l>Thoͤrigt, wenn ich dirs verheele;</l><lb/><l>Dir, der ſelbſt Gedanken zaͤhlt!</l></lg><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#in">A</hi>uch <hirendition="#fr">mein Gedankenregiſter</hi> ward heute genau geleſen<lb/>
und unterſuchet. Und wenn ich mich von allem Umgang<lb/>
mit gottloſen Menſchen enthalten, und keine ſuͤndliche Hand-<lb/>
lung wiſſentlich begangen haͤtte: ſo bin ich doch noch lange<lb/>
nicht rein vor dir, der du meine Gedanken von ferne verſtehſt!<lb/>
Dir, mein Gott! ſolten ja alle meine Vorſtellungen, die inner-<lb/>ſten Triebe meines Herzens und jeder aufwallende Gedanke ge-<lb/>
heiliget, und der Wuͤrde des Chriſtenthums gemas ſeyn! Aber,<lb/>
unter den vielen tauſend Gedanken, welche meine Seele heute<lb/>ſchnell untereiander dachte: wie viele ſind ihrer doch, deren ich<lb/>
mich jetzt erfreuen koͤnte, und deren ich mich noch in der Ewig-<lb/>
keit mit Vergnuͤgen erinnern duͤrfte? Freilich wird kein Menſch<lb/>
mich ihrentwegen zur Rede ſetzen: vor ihnen ſind meine Gedan-<lb/>
ken zollfrei. Aber vor dir, allwiſſender Herzenskuͤndiger! ſind<lb/>ſie es wahrhaftig nicht: vor dir ſind ſie Handlung und That!<lb/>
Mein Gedankenregiſter iſt ein Foliant, der nur im Himmel ge-<lb/>
leſen wird.</p><lb/><p>Erwarte ich es zuverſichtlich von dir, daß du an jenem Tage<lb/>
mehr auf meinen guten Willen, als auf meine mangelhafte<lb/>
Werke; mehr auf meine gute Abſichten, als auf ihre mir unmoͤg-<lb/>
lich gewordene Ausfuͤhrung ſehen werdeſt; bin ich uͤberzeugt, daß<lb/>
du auch die letzten Seufzer meines mit dem Tode kaͤmpfenden<lb/>
Herzens, und die ſehnſuchtsvollen Blicke meiner brechenden Au-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">gen</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[11[41]/0048]
Der 5te Januar.
Herr! wer merkts, wie oft er fehle?
Auch ich hab heut oft gefehlt!
Thoͤrigt, wenn ich dirs verheele;
Dir, der ſelbſt Gedanken zaͤhlt!
Auch mein Gedankenregiſter ward heute genau geleſen
und unterſuchet. Und wenn ich mich von allem Umgang
mit gottloſen Menſchen enthalten, und keine ſuͤndliche Hand-
lung wiſſentlich begangen haͤtte: ſo bin ich doch noch lange
nicht rein vor dir, der du meine Gedanken von ferne verſtehſt!
Dir, mein Gott! ſolten ja alle meine Vorſtellungen, die inner-
ſten Triebe meines Herzens und jeder aufwallende Gedanke ge-
heiliget, und der Wuͤrde des Chriſtenthums gemas ſeyn! Aber,
unter den vielen tauſend Gedanken, welche meine Seele heute
ſchnell untereiander dachte: wie viele ſind ihrer doch, deren ich
mich jetzt erfreuen koͤnte, und deren ich mich noch in der Ewig-
keit mit Vergnuͤgen erinnern duͤrfte? Freilich wird kein Menſch
mich ihrentwegen zur Rede ſetzen: vor ihnen ſind meine Gedan-
ken zollfrei. Aber vor dir, allwiſſender Herzenskuͤndiger! ſind
ſie es wahrhaftig nicht: vor dir ſind ſie Handlung und That!
Mein Gedankenregiſter iſt ein Foliant, der nur im Himmel ge-
leſen wird.
Erwarte ich es zuverſichtlich von dir, daß du an jenem Tage
mehr auf meinen guten Willen, als auf meine mangelhafte
Werke; mehr auf meine gute Abſichten, als auf ihre mir unmoͤg-
lich gewordene Ausfuͤhrung ſehen werdeſt; bin ich uͤberzeugt, daß
du auch die letzten Seufzer meines mit dem Tode kaͤmpfenden
Herzens, und die ſehnſuchtsvollen Blicke meiner brechenden Au-
gen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 11[41]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/48>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.