Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite
Der 21te Junius.
Erwa[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]e nur der Zeit:
So wirst du schon erblicken
Die Sonn der schönsten Freud.

Die Natur hat nun auf dis Jahr ihre Arbeit meistens für
uns vollendet. Sie fängt nun an, sich auszuruhen, wie ein
vierzigjähriger Mensch. Sie wird merklich ernsthafter. Statt
jugendliches Lichtgrün wälet sie sittsame dunkle Farben zu ihrem
Gewande. Die Nachtigall schweigt, die Spaziergänge werden,
der Hitze wegen, beschwerlich, der arbeitende Landmann mähet
die Blumen einiger Wiesen hinweg, und ergreift schon die Sichel
zur Wintergerste. -- Ein Bild des menschlichen Lebens! Wo
es auch unnatürlich ist, im Sommer des Lebens tändeln und nicht
arbeiten zu wollen.

Mein Gott! deine Sonne bescheinet jetzt fast alle meine
Handlungen: ach! daß ich doch keine Werke der Finsterniß aus-
übte! Von nun an nehmen die Tage, wiewol unmerklich ab:
mögte ich doch bedenken, daß die Tage meines Lebens beständig
unvermerkt abnehmen, und daß mein Gang zu deinem Gerichts-
stule mit jedem Abend kürzer wird! Du segensreicher Gott über-
strömest uns jetzt mit Wohlthun: aber das alles ist doch nur
eine Kleinigkeit gegen die Fülle deiner Gnade, welche du uns in
Christo anbeutst! Er ist die Sonne der Gerechtigkeit, und ge-
het niemals unter. Jedes finstre und kalte Herz kan von ihm
erleuchtet, und zur Tugend belebet werden. Ach! mein Helland!
ohne dich bin ich todt, und alles ist dunkel und Winter um mich.
Laß deine Gnade gegen mich Sünder nicht abnehmen, und werde
des Erbarmens und Sündevergebens nicht müde! Jch bereue
abermals meine Kälte gegen dich und meine Trägheit im Guten:
o! wäre doch meine Dankbarkeit feuriger; denn meine Tage
nehmen ab, und im Tode gedenket man deiner nicht! Wer
wird in der langen Nacht des Grabes erst anfangen, dir zu
danken?

Der
Der 21te Junius.
Erwa[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]e nur der Zeit:
So wirſt du ſchon erblicken
Die Sonn der ſchoͤnſten Freud.

Die Natur hat nun auf dis Jahr ihre Arbeit meiſtens fuͤr
uns vollendet. Sie faͤngt nun an, ſich auszuruhen, wie ein
vierzigjaͤhriger Menſch. Sie wird merklich ernſthafter. Statt
jugendliches Lichtgruͤn waͤlet ſie ſittſame dunkle Farben zu ihrem
Gewande. Die Nachtigall ſchweigt, die Spaziergaͤnge werden,
der Hitze wegen, beſchwerlich, der arbeitende Landmann maͤhet
die Blumen einiger Wieſen hinweg, und ergreift ſchon die Sichel
zur Wintergerſte. — Ein Bild des menſchlichen Lebens! Wo
es auch unnatuͤrlich iſt, im Sommer des Lebens taͤndeln und nicht
arbeiten zu wollen.

Mein Gott! deine Sonne beſcheinet jetzt faſt alle meine
Handlungen: ach! daß ich doch keine Werke der Finſterniß aus-
uͤbte! Von nun an nehmen die Tage, wiewol unmerklich ab:
moͤgte ich doch bedenken, daß die Tage meines Lebens beſtaͤndig
unvermerkt abnehmen, und daß mein Gang zu deinem Gerichts-
ſtule mit jedem Abend kuͤrzer wird! Du ſegensreicher Gott uͤber-
ſtroͤmeſt uns jetzt mit Wohlthun: aber das alles iſt doch nur
eine Kleinigkeit gegen die Fuͤlle deiner Gnade, welche du uns in
Chriſto anbeutſt! Er iſt die Sonne der Gerechtigkeit, und ge-
het niemals unter. Jedes finſtre und kalte Herz kan von ihm
erleuchtet, und zur Tugend belebet werden. Ach! mein Helland!
ohne dich bin ich todt, und alles iſt dunkel und Winter um mich.
Laß deine Gnade gegen mich Suͤnder nicht abnehmen, und werde
des Erbarmens und Suͤndevergebens nicht muͤde! Jch bereue
abermals meine Kaͤlte gegen dich und meine Traͤgheit im Guten:
o! waͤre doch meine Dankbarkeit feuriger; denn meine Tage
nehmen ab, und im Tode gedenket man deiner nicht! Wer
wird in der langen Nacht des Grabes erſt anfangen, dir zu
danken?

Der
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0395" n="358[388]"/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Der 21<hi rendition="#sup">te</hi> Junius.</hi> </head><lb/>
            <lg type="poem">
              <l><hi rendition="#in">E</hi>rwa<gap reason="illegible" unit="chars" quantity="1"/>e nur der Zeit:</l><lb/>
              <l>So wir&#x017F;t du &#x017F;chon erblicken</l><lb/>
              <l>Die Sonn der &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten Freud.</l>
            </lg><lb/>
            <p>Die Natur hat nun auf dis Jahr ihre Arbeit mei&#x017F;tens fu&#x0364;r<lb/>
uns vollendet. Sie fa&#x0364;ngt nun an, &#x017F;ich auszuruhen, wie ein<lb/>
vierzigja&#x0364;hriger Men&#x017F;ch. Sie wird merklich ern&#x017F;thafter. Statt<lb/>
jugendliches Lichtgru&#x0364;n wa&#x0364;let &#x017F;ie &#x017F;itt&#x017F;ame dunkle Farben zu ihrem<lb/>
Gewande. Die Nachtigall &#x017F;chweigt, die Spazierga&#x0364;nge werden,<lb/>
der Hitze wegen, be&#x017F;chwerlich, der arbeitende Landmann ma&#x0364;het<lb/>
die Blumen einiger Wie&#x017F;en hinweg, und ergreift &#x017F;chon die Sichel<lb/>
zur Winterger&#x017F;te. &#x2014; Ein Bild des men&#x017F;chlichen Lebens! Wo<lb/>
es auch unnatu&#x0364;rlich i&#x017F;t, im Sommer des Lebens ta&#x0364;ndeln und nicht<lb/>
arbeiten zu wollen.</p><lb/>
            <p>Mein Gott! deine Sonne be&#x017F;cheinet jetzt fa&#x017F;t alle meine<lb/>
Handlungen: ach! daß ich doch keine Werke der Fin&#x017F;terniß aus-<lb/>
u&#x0364;bte! Von nun an nehmen die Tage, wiewol unmerklich ab:<lb/>
mo&#x0364;gte ich doch bedenken, daß die Tage meines Lebens be&#x017F;ta&#x0364;ndig<lb/>
unvermerkt abnehmen, und daß mein Gang zu deinem Gerichts-<lb/>
&#x017F;tule mit jedem Abend ku&#x0364;rzer wird! Du &#x017F;egensreicher Gott u&#x0364;ber-<lb/>
&#x017F;tro&#x0364;me&#x017F;t uns jetzt mit Wohlthun: aber das alles i&#x017F;t doch nur<lb/>
eine Kleinigkeit gegen die Fu&#x0364;lle deiner Gnade, welche du uns in<lb/>
Chri&#x017F;to anbeut&#x017F;t! Er i&#x017F;t die Sonne der Gerechtigkeit, und ge-<lb/>
het niemals unter. Jedes fin&#x017F;tre und kalte Herz kan von ihm<lb/>
erleuchtet, und zur Tugend belebet werden. Ach! mein Helland!<lb/>
ohne dich bin ich todt, und alles i&#x017F;t dunkel und Winter um mich.<lb/>
Laß deine Gnade gegen mich Su&#x0364;nder nicht abnehmen, und werde<lb/>
des Erbarmens und Su&#x0364;ndevergebens nicht mu&#x0364;de! Jch bereue<lb/>
abermals meine Ka&#x0364;lte gegen dich und meine Tra&#x0364;gheit im Guten:<lb/>
o! wa&#x0364;re doch meine Dankbarkeit feuriger; denn meine Tage<lb/>
nehmen ab, und im Tode gedenket man deiner nicht! Wer<lb/>
wird in der langen Nacht des Grabes er&#x017F;t anfangen, dir zu<lb/>
danken?</p>
          </div><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Der</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[358[388]/0395] Der 21te Junius. Erwa_e nur der Zeit: So wirſt du ſchon erblicken Die Sonn der ſchoͤnſten Freud. Die Natur hat nun auf dis Jahr ihre Arbeit meiſtens fuͤr uns vollendet. Sie faͤngt nun an, ſich auszuruhen, wie ein vierzigjaͤhriger Menſch. Sie wird merklich ernſthafter. Statt jugendliches Lichtgruͤn waͤlet ſie ſittſame dunkle Farben zu ihrem Gewande. Die Nachtigall ſchweigt, die Spaziergaͤnge werden, der Hitze wegen, beſchwerlich, der arbeitende Landmann maͤhet die Blumen einiger Wieſen hinweg, und ergreift ſchon die Sichel zur Wintergerſte. — Ein Bild des menſchlichen Lebens! Wo es auch unnatuͤrlich iſt, im Sommer des Lebens taͤndeln und nicht arbeiten zu wollen. Mein Gott! deine Sonne beſcheinet jetzt faſt alle meine Handlungen: ach! daß ich doch keine Werke der Finſterniß aus- uͤbte! Von nun an nehmen die Tage, wiewol unmerklich ab: moͤgte ich doch bedenken, daß die Tage meines Lebens beſtaͤndig unvermerkt abnehmen, und daß mein Gang zu deinem Gerichts- ſtule mit jedem Abend kuͤrzer wird! Du ſegensreicher Gott uͤber- ſtroͤmeſt uns jetzt mit Wohlthun: aber das alles iſt doch nur eine Kleinigkeit gegen die Fuͤlle deiner Gnade, welche du uns in Chriſto anbeutſt! Er iſt die Sonne der Gerechtigkeit, und ge- het niemals unter. Jedes finſtre und kalte Herz kan von ihm erleuchtet, und zur Tugend belebet werden. Ach! mein Helland! ohne dich bin ich todt, und alles iſt dunkel und Winter um mich. Laß deine Gnade gegen mich Suͤnder nicht abnehmen, und werde des Erbarmens und Suͤndevergebens nicht muͤde! Jch bereue abermals meine Kaͤlte gegen dich und meine Traͤgheit im Guten: o! waͤre doch meine Dankbarkeit feuriger; denn meine Tage nehmen ab, und im Tode gedenket man deiner nicht! Wer wird in der langen Nacht des Grabes erſt anfangen, dir zu danken? Der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/395
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 358[388]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/395>, abgerufen am 03.07.2024.