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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 13te Junius.
Mensch! suche doch nicht Leben,
Wo alles Grabmal ist!
Kan dir die Erde geben,
Was sie noch selbst vermißt?


Der Ort, wo ich mich jetzo befinde, ist vermuthlich ein Grab.
Denn wohin könte ich wol den Fuß setzen, ohne auf Leichen
oder ihren Staub zu treten? Vieleicht opferten heidnische Vor-
fahren ihrem Götzen auf dieser Stelle einen Menschen auf. Vie-
leicht erschlug vor zweitausend Jahren ein Deutscher beim späten
Schmause, in dieser Stunde, seinen Freund allhier. Jn die-
sem Winkel mag ein Verwegner gestorben seyn, dessen verdamte
Seele jetzt mit Schaudern an diesen Sterbeort zurückedenkt.
Und dort in jener Ecke verschied vieleicht ein Verehrer Gottes, der
jetzt für mich den feurigen Wunsch thut: "ach! daß doch du die
Wohnung mit keiner Sünde entweihtest, von welcher Engel
Gottes meine Seele in den Himmel führten!"

So ist denn die Erde ein Todtenacker, und der Tod
darf mir kein neuer Gedanke seyn: denn jede Blume duftet ihn mir
entgegen. Der Kirchhof, der Gottesacker, das Skelett sind es
nicht allein, welche ihn schildern: es ist, als wenn die ganze Erde
nun schon aus Moder und Verwesung bestünde. Jhr nennet jenen
Hügel einen Weinberg; aber ihr köntet ihn mit eben dem Rechte
einen Grabhügel nennen. Die halb eröfnete Rosenknospe scheinet
mir das Fleisch der Vorwelt zu zeigen, aus welchem sie, mit Ver-
mischung andrer Dinge, zusammengesetzt ist. Wie kindisch ist
unser Grauen und Ekel! Heute schauern wir vor einem Leichnam
zurück, und nach einigen Jahren ergötzt er uns in Blumen, im
Getreide, im Wein! Wir leben von der Verwesung, und am
Ende bezahlen wir unsre Mahlzeiten mit unserm Körper.

Wenn
Y 3


Der 13te Junius.
Menſch! ſuche doch nicht Leben,
Wo alles Grabmal iſt!
Kan dir die Erde geben,
Was ſie noch ſelbſt vermißt?


Der Ort, wo ich mich jetzo befinde, iſt vermuthlich ein Grab.
Denn wohin koͤnte ich wol den Fuß ſetzen, ohne auf Leichen
oder ihren Staub zu treten? Vieleicht opferten heidniſche Vor-
fahren ihrem Goͤtzen auf dieſer Stelle einen Menſchen auf. Vie-
leicht erſchlug vor zweitauſend Jahren ein Deutſcher beim ſpaͤten
Schmauſe, in dieſer Stunde, ſeinen Freund allhier. Jn die-
ſem Winkel mag ein Verwegner geſtorben ſeyn, deſſen verdamte
Seele jetzt mit Schaudern an dieſen Sterbeort zuruͤckedenkt.
Und dort in jener Ecke verſchied vieleicht ein Verehrer Gottes, der
jetzt fuͤr mich den feurigen Wunſch thut: „ach! daß doch du die
Wohnung mit keiner Suͤnde entweihteſt, von welcher Engel
Gottes meine Seele in den Himmel fuͤhrten!„

So iſt denn die Erde ein Todtenacker, und der Tod
darf mir kein neuer Gedanke ſeyn: denn jede Blume duftet ihn mir
entgegen. Der Kirchhof, der Gottesacker, das Skelett ſind es
nicht allein, welche ihn ſchildern: es iſt, als wenn die ganze Erde
nun ſchon aus Moder und Verweſung beſtuͤnde. Jhr nennet jenen
Huͤgel einen Weinberg; aber ihr koͤntet ihn mit eben dem Rechte
einen Grabhuͤgel nennen. Die halb eroͤfnete Roſenknoſpe ſcheinet
mir das Fleiſch der Vorwelt zu zeigen, aus welchem ſie, mit Ver-
miſchung andrer Dinge, zuſammengeſetzt iſt. Wie kindiſch iſt
unſer Grauen und Ekel! Heute ſchauern wir vor einem Leichnam
zuruͤck, und nach einigen Jahren ergoͤtzt er uns in Blumen, im
Getreide, im Wein! Wir leben von der Verweſung, und am
Ende bezahlen wir unſre Mahlzeiten mit unſerm Koͤrper.

Wenn
Y 3
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[341[371]/0378] Der 13te Junius. Menſch! ſuche doch nicht Leben, Wo alles Grabmal iſt! Kan dir die Erde geben, Was ſie noch ſelbſt vermißt? Der Ort, wo ich mich jetzo befinde, iſt vermuthlich ein Grab. Denn wohin koͤnte ich wol den Fuß ſetzen, ohne auf Leichen oder ihren Staub zu treten? Vieleicht opferten heidniſche Vor- fahren ihrem Goͤtzen auf dieſer Stelle einen Menſchen auf. Vie- leicht erſchlug vor zweitauſend Jahren ein Deutſcher beim ſpaͤten Schmauſe, in dieſer Stunde, ſeinen Freund allhier. Jn die- ſem Winkel mag ein Verwegner geſtorben ſeyn, deſſen verdamte Seele jetzt mit Schaudern an dieſen Sterbeort zuruͤckedenkt. Und dort in jener Ecke verſchied vieleicht ein Verehrer Gottes, der jetzt fuͤr mich den feurigen Wunſch thut: „ach! daß doch du die Wohnung mit keiner Suͤnde entweihteſt, von welcher Engel Gottes meine Seele in den Himmel fuͤhrten!„ So iſt denn die Erde ein Todtenacker, und der Tod darf mir kein neuer Gedanke ſeyn: denn jede Blume duftet ihn mir entgegen. Der Kirchhof, der Gottesacker, das Skelett ſind es nicht allein, welche ihn ſchildern: es iſt, als wenn die ganze Erde nun ſchon aus Moder und Verweſung beſtuͤnde. Jhr nennet jenen Huͤgel einen Weinberg; aber ihr koͤntet ihn mit eben dem Rechte einen Grabhuͤgel nennen. Die halb eroͤfnete Roſenknoſpe ſcheinet mir das Fleiſch der Vorwelt zu zeigen, aus welchem ſie, mit Ver- miſchung andrer Dinge, zuſammengeſetzt iſt. Wie kindiſch iſt unſer Grauen und Ekel! Heute ſchauern wir vor einem Leichnam zuruͤck, und nach einigen Jahren ergoͤtzt er uns in Blumen, im Getreide, im Wein! Wir leben von der Verweſung, und am Ende bezahlen wir unſre Mahlzeiten mit unſerm Koͤrper. Wenn Y 3

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 341[371]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/378>, abgerufen am 03.12.2024.