Wenn ich, geehrt und groß, in Würden mich erblicke: Gott! wer erhöhte mich? Jst nicht mein Nächster oft, bei seinem kleinern Glücke, Viel würdiger, als ich?
Können Thiere ihre Klagen vor Gott bringen, (und warum solte der Schöpfer das Aengstigen seiner Geschöpfe nicht ver- stehen?) so müssen sie über den Stolz gegen die Kreatur seufzen, womit der Mensch sie behandelt, der doch von ihrem Fleisch, von ihrer Bekleidung und Arbeit lebet! Sie verdienten doch, zum Ruhm ihres Schöpfers, weit mehr Achtung. Jedoch wenn wir auch den einschläfernden Satz annehmen wolten, daß uns alle Thiere zu Wasser und zu Lande preis gegeben, und wir, bei grausamen oder liebreichem Verfahren gegen sie, gleich un- schuldig wären: so treten alsdann doch unsre Mitmenschen auf, und klagen uns des Hochmuths wegen an.
O! wie einfältig ist unsre gewöhnliche Schätzung des Näch- sten! Stammbäume und Gallakleider; ein schönes Gesicht und ein witziger Einfall; eine Tonne Goldes und eine blühende Ge- sundheit, können noch lange nicht den wahren Werth des Men- schen bestimmen. Das hiesse die Sonne blos deswegen schätzen, weil sie den Froschlaich belebt, oder von einem Glasscherben Stralen zurückwirft! Jede menschliche Seele, und wäre sie die Seele eines Kain oder Judas, verdienet unsre innigste Hochach- tung. Jhre Laster und Fehler verunstalten sie zwar; können aber leichter weggewischt werden, als die Flecken der Sonne.
Wir
Tiedens Abendand. I. Th. X
Der 3te Junius.
Wenn ich, geehrt und groß, in Wuͤrden mich erblicke: Gott! wer erhoͤhte mich? Jſt nicht mein Naͤchſter oft, bei ſeinem kleinern Gluͤcke, Viel wuͤrdiger, als ich?
Koͤnnen Thiere ihre Klagen vor Gott bringen, (und warum ſolte der Schoͤpfer das Aengſtigen ſeiner Geſchoͤpfe nicht ver- ſtehen?) ſo muͤſſen ſie uͤber den Stolz gegen die Kreatur ſeufzen, womit der Menſch ſie behandelt, der doch von ihrem Fleiſch, von ihrer Bekleidung und Arbeit lebet! Sie verdienten doch, zum Ruhm ihres Schoͤpfers, weit mehr Achtung. Jedoch wenn wir auch den einſchlaͤfernden Satz annehmen wolten, daß uns alle Thiere zu Waſſer und zu Lande preis gegeben, und wir, bei grauſamen oder liebreichem Verfahren gegen ſie, gleich un- ſchuldig waͤren: ſo treten alsdann doch unſre Mitmenſchen auf, und klagen uns des Hochmuths wegen an.
O! wie einfaͤltig iſt unſre gewoͤhnliche Schaͤtzung des Naͤch- ſten! Stammbaͤume und Gallakleider; ein ſchoͤnes Geſicht und ein witziger Einfall; eine Tonne Goldes und eine bluͤhende Ge- ſundheit, koͤnnen noch lange nicht den wahren Werth des Men- ſchen beſtimmen. Das hieſſe die Sonne blos deswegen ſchaͤtzen, weil ſie den Froſchlaich belebt, oder von einem Glasſcherben Stralen zuruͤckwirft! Jede menſchliche Seele, und waͤre ſie die Seele eines Kain oder Judas, verdienet unſre innigſte Hochach- tung. Jhre Laſter und Fehler verunſtalten ſie zwar; koͤnnen aber leichter weggewiſcht werden, als die Flecken der Sonne.
Wir
Tiedens Abendand. I. Th. X
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[321[351]/0358]
Der 3te Junius.
Wenn ich, geehrt und groß, in Wuͤrden mich erblicke:
Gott! wer erhoͤhte mich?
Jſt nicht mein Naͤchſter oft, bei ſeinem kleinern Gluͤcke,
Viel wuͤrdiger, als ich?
Koͤnnen Thiere ihre Klagen vor Gott bringen, (und warum
ſolte der Schoͤpfer das Aengſtigen ſeiner Geſchoͤpfe nicht ver-
ſtehen?) ſo muͤſſen ſie uͤber den Stolz gegen die Kreatur
ſeufzen, womit der Menſch ſie behandelt, der doch von ihrem
Fleiſch, von ihrer Bekleidung und Arbeit lebet! Sie verdienten
doch, zum Ruhm ihres Schoͤpfers, weit mehr Achtung. Jedoch
wenn wir auch den einſchlaͤfernden Satz annehmen wolten, daß
uns alle Thiere zu Waſſer und zu Lande preis gegeben, und wir,
bei grauſamen oder liebreichem Verfahren gegen ſie, gleich un-
ſchuldig waͤren: ſo treten alsdann doch unſre Mitmenſchen auf,
und klagen uns des Hochmuths wegen an.
O! wie einfaͤltig iſt unſre gewoͤhnliche Schaͤtzung des Naͤch-
ſten! Stammbaͤume und Gallakleider; ein ſchoͤnes Geſicht und
ein witziger Einfall; eine Tonne Goldes und eine bluͤhende Ge-
ſundheit, koͤnnen noch lange nicht den wahren Werth des Men-
ſchen beſtimmen. Das hieſſe die Sonne blos deswegen ſchaͤtzen,
weil ſie den Froſchlaich belebt, oder von einem Glasſcherben
Stralen zuruͤckwirft! Jede menſchliche Seele, und waͤre ſie die
Seele eines Kain oder Judas, verdienet unſre innigſte Hochach-
tung. Jhre Laſter und Fehler verunſtalten ſie zwar; koͤnnen
aber leichter weggewiſcht werden, als die Flecken der Sonne.
Wir
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 321[351]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/358>, abgerufen am 21.11.2024.
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