Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite


Der 3te Junius.
Wenn ich, geehrt und groß, in Würden mich erblicke:
Gott! wer erhöhte mich?
Jst nicht mein Nächster oft, bei seinem kleinern Glücke,
Viel würdiger, als ich?


Können Thiere ihre Klagen vor Gott bringen, (und warum
solte der Schöpfer das Aengstigen seiner Geschöpfe nicht ver-
stehen?) so müssen sie über den Stolz gegen die Kreatur
seufzen, womit der Mensch sie behandelt, der doch von ihrem
Fleisch, von ihrer Bekleidung und Arbeit lebet! Sie verdienten
doch, zum Ruhm ihres Schöpfers, weit mehr Achtung. Jedoch
wenn wir auch den einschläfernden Satz annehmen wolten, daß
uns alle Thiere zu Wasser und zu Lande preis gegeben, und wir,
bei grausamen oder liebreichem Verfahren gegen sie, gleich un-
schuldig wären: so treten alsdann doch unsre Mitmenschen auf,
und klagen uns des Hochmuths wegen an.

O! wie einfältig ist unsre gewöhnliche Schätzung des Näch-
sten! Stammbäume und Gallakleider; ein schönes Gesicht und
ein witziger Einfall; eine Tonne Goldes und eine blühende Ge-
sundheit, können noch lange nicht den wahren Werth des Men-
schen bestimmen. Das hiesse die Sonne blos deswegen schätzen,
weil sie den Froschlaich belebt, oder von einem Glasscherben
Stralen zurückwirft! Jede menschliche Seele, und wäre sie die
Seele eines Kain oder Judas, verdienet unsre innigste Hochach-
tung. Jhre Laster und Fehler verunstalten sie zwar; können
aber leichter weggewischt werden, als die Flecken der Sonne.

Wir
Tiedens Abendand. I. Th. X


Der 3te Junius.
Wenn ich, geehrt und groß, in Wuͤrden mich erblicke:
Gott! wer erhoͤhte mich?
Jſt nicht mein Naͤchſter oft, bei ſeinem kleinern Gluͤcke,
Viel wuͤrdiger, als ich?


Koͤnnen Thiere ihre Klagen vor Gott bringen, (und warum
ſolte der Schoͤpfer das Aengſtigen ſeiner Geſchoͤpfe nicht ver-
ſtehen?) ſo muͤſſen ſie uͤber den Stolz gegen die Kreatur
ſeufzen, womit der Menſch ſie behandelt, der doch von ihrem
Fleiſch, von ihrer Bekleidung und Arbeit lebet! Sie verdienten
doch, zum Ruhm ihres Schoͤpfers, weit mehr Achtung. Jedoch
wenn wir auch den einſchlaͤfernden Satz annehmen wolten, daß
uns alle Thiere zu Waſſer und zu Lande preis gegeben, und wir,
bei grauſamen oder liebreichem Verfahren gegen ſie, gleich un-
ſchuldig waͤren: ſo treten alsdann doch unſre Mitmenſchen auf,
und klagen uns des Hochmuths wegen an.

O! wie einfaͤltig iſt unſre gewoͤhnliche Schaͤtzung des Naͤch-
ſten! Stammbaͤume und Gallakleider; ein ſchoͤnes Geſicht und
ein witziger Einfall; eine Tonne Goldes und eine bluͤhende Ge-
ſundheit, koͤnnen noch lange nicht den wahren Werth des Men-
ſchen beſtimmen. Das hieſſe die Sonne blos deswegen ſchaͤtzen,
weil ſie den Froſchlaich belebt, oder von einem Glasſcherben
Stralen zuruͤckwirft! Jede menſchliche Seele, und waͤre ſie die
Seele eines Kain oder Judas, verdienet unſre innigſte Hochach-
tung. Jhre Laſter und Fehler verunſtalten ſie zwar; koͤnnen
aber leichter weggewiſcht werden, als die Flecken der Sonne.

Wir
Tiedens Abendand. I. Th. X
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0358" n="321[351]"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Der 3<hi rendition="#sup">te</hi> Junius.</hi> </head><lb/>
            <lg type="poem">
              <l><hi rendition="#in">W</hi>enn ich, geehrt und groß, in Wu&#x0364;rden mich erblicke:</l><lb/>
              <l>Gott! wer erho&#x0364;hte mich?</l><lb/>
              <l>J&#x017F;t nicht mein Na&#x0364;ch&#x017F;ter oft, bei &#x017F;einem kleinern Glu&#x0364;cke,</l><lb/>
              <l>Viel wu&#x0364;rdiger, als ich?</l>
            </lg><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p><hi rendition="#in">K</hi>o&#x0364;nnen Thiere ihre Klagen vor Gott bringen, (und warum<lb/>
&#x017F;olte der Scho&#x0364;pfer das Aeng&#x017F;tigen &#x017F;einer Ge&#x017F;cho&#x0364;pfe nicht ver-<lb/>
&#x017F;tehen?) &#x017F;o mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie u&#x0364;ber den <hi rendition="#fr">Stolz gegen die Kreatur</hi><lb/>
&#x017F;eufzen, womit der Men&#x017F;ch &#x017F;ie behandelt, der doch von ihrem<lb/>
Flei&#x017F;ch, von ihrer Bekleidung und Arbeit lebet! Sie verdienten<lb/>
doch, zum Ruhm ihres Scho&#x0364;pfers, weit mehr Achtung. Jedoch<lb/>
wenn wir auch den ein&#x017F;chla&#x0364;fernden Satz annehmen wolten, daß<lb/>
uns alle Thiere zu Wa&#x017F;&#x017F;er und zu Lande preis gegeben, und wir,<lb/>
bei grau&#x017F;amen oder liebreichem Verfahren gegen &#x017F;ie, gleich un-<lb/>
&#x017F;chuldig wa&#x0364;ren: &#x017F;o treten alsdann doch un&#x017F;re Mitmen&#x017F;chen auf,<lb/>
und klagen uns des Hochmuths wegen an.</p><lb/>
            <p>O! wie einfa&#x0364;ltig i&#x017F;t un&#x017F;re gewo&#x0364;hnliche Scha&#x0364;tzung des Na&#x0364;ch-<lb/>
&#x017F;ten! Stammba&#x0364;ume und Gallakleider; ein &#x017F;cho&#x0364;nes Ge&#x017F;icht und<lb/>
ein witziger Einfall; eine Tonne Goldes und eine blu&#x0364;hende Ge-<lb/>
&#x017F;undheit, ko&#x0364;nnen noch lange nicht den wahren Werth des Men-<lb/>
&#x017F;chen be&#x017F;timmen. Das hie&#x017F;&#x017F;e die Sonne blos deswegen &#x017F;cha&#x0364;tzen,<lb/>
weil &#x017F;ie den Fro&#x017F;chlaich belebt, oder von einem Glas&#x017F;cherben<lb/>
Stralen zuru&#x0364;ckwirft! Jede men&#x017F;chliche Seele, und wa&#x0364;re &#x017F;ie die<lb/>
Seele eines Kain oder Judas, verdienet un&#x017F;re innig&#x017F;te Hochach-<lb/>
tung. Jhre La&#x017F;ter und Fehler verun&#x017F;talten &#x017F;ie zwar; ko&#x0364;nnen<lb/>
aber leichter weggewi&#x017F;cht werden, als die Flecken der Sonne.<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Tiedens Abendand. <hi rendition="#aq">I.</hi> Th. X</fw><fw place="bottom" type="catch">Wir</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[321[351]/0358] Der 3te Junius. Wenn ich, geehrt und groß, in Wuͤrden mich erblicke: Gott! wer erhoͤhte mich? Jſt nicht mein Naͤchſter oft, bei ſeinem kleinern Gluͤcke, Viel wuͤrdiger, als ich? Koͤnnen Thiere ihre Klagen vor Gott bringen, (und warum ſolte der Schoͤpfer das Aengſtigen ſeiner Geſchoͤpfe nicht ver- ſtehen?) ſo muͤſſen ſie uͤber den Stolz gegen die Kreatur ſeufzen, womit der Menſch ſie behandelt, der doch von ihrem Fleiſch, von ihrer Bekleidung und Arbeit lebet! Sie verdienten doch, zum Ruhm ihres Schoͤpfers, weit mehr Achtung. Jedoch wenn wir auch den einſchlaͤfernden Satz annehmen wolten, daß uns alle Thiere zu Waſſer und zu Lande preis gegeben, und wir, bei grauſamen oder liebreichem Verfahren gegen ſie, gleich un- ſchuldig waͤren: ſo treten alsdann doch unſre Mitmenſchen auf, und klagen uns des Hochmuths wegen an. O! wie einfaͤltig iſt unſre gewoͤhnliche Schaͤtzung des Naͤch- ſten! Stammbaͤume und Gallakleider; ein ſchoͤnes Geſicht und ein witziger Einfall; eine Tonne Goldes und eine bluͤhende Ge- ſundheit, koͤnnen noch lange nicht den wahren Werth des Men- ſchen beſtimmen. Das hieſſe die Sonne blos deswegen ſchaͤtzen, weil ſie den Froſchlaich belebt, oder von einem Glasſcherben Stralen zuruͤckwirft! Jede menſchliche Seele, und waͤre ſie die Seele eines Kain oder Judas, verdienet unſre innigſte Hochach- tung. Jhre Laſter und Fehler verunſtalten ſie zwar; koͤnnen aber leichter weggewiſcht werden, als die Flecken der Sonne. Wir Tiedens Abendand. I. Th. X

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/358
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 321[351]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/358>, abgerufen am 22.07.2024.