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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 1ste Junius.
Wie feurig predigt der Greis die Tugend!
Dicht um ihn siehet die horchende Jugend;
Sein Ernst ist nie ganz freudenleer:
So vaget die hundertjährige Eiche
Und breitet ehrwürdig auf Gesträuche
Wohlthätigen Schirm und Schatten her.


Es giebt doch auch wünschenswerthe Vorzüge eines ho-
hen Alters.
Eine schmeichelnde Abhandlung für mein
Herz! denn es wünschet und verspricht sich das höchste Al-
ter in der ganzen Provinz. Es versteht sich aber, daß von ver-
nünftigen Greifen die Rede sey: unvernünfeigen kan nur die Hölle
einen Vorzug beilegen.

Der rechtschafne Greis findet am vierten Gebot einen feinen
Lobredner: und ein hohes Alter ist ein ziemlich unverwerflicher
Zeuge, daß man mäßig gelebet hat. Die Leidenschaften werden
bei grauen Haaren sittsam, und halten das Herz von der Tugend
nicht ab. Gleich einem Schiffer, der dem Schifbruch entrann,
und jetzt auf dem Felsen seine Kleider abtrocknet, von wannen er
seine Mitgefährten mit den Wellen arbeiten und auf Trümmern
schwimmen sieht: so fühlet der Altvater sein Glück, daß er nicht
mehr an den Schwellen gieriger Grossen betteln, oder mit den
Wogen des Glücks nicht mehr kämpfen darf. Wo seine Enkel
zittern, da schlummert er ein. Er hat zu viel gesehen und er-
duldet, als daß er alle Augenblicke zusammenfahren solte. Seine
Prophezeiungen sind gewisser, wie die ausgeklügeltsten Entwürfe
des Kabinetts. Wo er Gefahr siehet, da ist Gefahr. Leiden-

schaften


Der 1ſte Junius.
Wie feurig predigt der Greis die Tugend!
Dicht um ihn ſiehet die horchende Jugend;
Sein Ernſt iſt nie ganz freudenleer:
So vaget die hundertjaͤhrige Eiche
Und breitet ehrwuͤrdig auf Geſtraͤuche
Wohlthaͤtigen Schirm und Schatten her.


Es giebt doch auch wuͤnſchenswerthe Vorzuͤge eines ho-
hen Alters.
Eine ſchmeichelnde Abhandlung fuͤr mein
Herz! denn es wuͤnſchet und verſpricht ſich das hoͤchſte Al-
ter in der ganzen Provinz. Es verſteht ſich aber, daß von ver-
nuͤnftigen Greifen die Rede ſey: unvernuͤnfeigen kan nur die Hoͤlle
einen Vorzug beilegen.

Der rechtſchafne Greis findet am vierten Gebot einen feinen
Lobredner: und ein hohes Alter iſt ein ziemlich unverwerflicher
Zeuge, daß man maͤßig gelebet hat. Die Leidenſchaften werden
bei grauen Haaren ſittſam, und halten das Herz von der Tugend
nicht ab. Gleich einem Schiffer, der dem Schifbruch entrann,
und jetzt auf dem Felſen ſeine Kleider abtrocknet, von wannen er
ſeine Mitgefaͤhrten mit den Wellen arbeiten und auf Truͤmmern
ſchwimmen ſieht: ſo fuͤhlet der Altvater ſein Gluͤck, daß er nicht
mehr an den Schwellen gieriger Groſſen betteln, oder mit den
Wogen des Gluͤcks nicht mehr kaͤmpfen darf. Wo ſeine Enkel
zittern, da ſchlummert er ein. Er hat zu viel geſehen und er-
duldet, als daß er alle Augenblicke zuſammenfahren ſolte. Seine
Prophezeiungen ſind gewiſſer, wie die ausgekluͤgeltſten Entwuͤrfe
des Kabinetts. Wo er Gefahr ſiehet, da iſt Gefahr. Leiden-

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[317[347]/0354] Der 1ſte Junius. Wie feurig predigt der Greis die Tugend! Dicht um ihn ſiehet die horchende Jugend; Sein Ernſt iſt nie ganz freudenleer: So vaget die hundertjaͤhrige Eiche Und breitet ehrwuͤrdig auf Geſtraͤuche Wohlthaͤtigen Schirm und Schatten her. Es giebt doch auch wuͤnſchenswerthe Vorzuͤge eines ho- hen Alters. Eine ſchmeichelnde Abhandlung fuͤr mein Herz! denn es wuͤnſchet und verſpricht ſich das hoͤchſte Al- ter in der ganzen Provinz. Es verſteht ſich aber, daß von ver- nuͤnftigen Greifen die Rede ſey: unvernuͤnfeigen kan nur die Hoͤlle einen Vorzug beilegen. Der rechtſchafne Greis findet am vierten Gebot einen feinen Lobredner: und ein hohes Alter iſt ein ziemlich unverwerflicher Zeuge, daß man maͤßig gelebet hat. Die Leidenſchaften werden bei grauen Haaren ſittſam, und halten das Herz von der Tugend nicht ab. Gleich einem Schiffer, der dem Schifbruch entrann, und jetzt auf dem Felſen ſeine Kleider abtrocknet, von wannen er ſeine Mitgefaͤhrten mit den Wellen arbeiten und auf Truͤmmern ſchwimmen ſieht: ſo fuͤhlet der Altvater ſein Gluͤck, daß er nicht mehr an den Schwellen gieriger Groſſen betteln, oder mit den Wogen des Gluͤcks nicht mehr kaͤmpfen darf. Wo ſeine Enkel zittern, da ſchlummert er ein. Er hat zu viel geſehen und er- duldet, als daß er alle Augenblicke zuſammenfahren ſolte. Seine Prophezeiungen ſind gewiſſer, wie die ausgekluͤgeltſten Entwuͤrfe des Kabinetts. Wo er Gefahr ſiehet, da iſt Gefahr. Leiden- ſchaften

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 317[347]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/354>, abgerufen am 21.11.2024.