Versagt dir Gott ein irdisch Gut, Mensch! so versagt er dirs aus Liebe; Denn was er unterläßt und thut, Geschieht aus gleichem Zweck und Triebe.
Jeder unsrer fünf Sinne befindet sich bei gewissen Thieren in weit schärferm und vollkommnerm Grade. Sollen wir sie deswegen beneiden? Jhnen waren sie ihrer Schwäche und Dum- heit wegen nöthig: wir aber bekamen Verstand, der alles ersetzt, was unsern Sinnen abgeht. Raubthiere mußten leises Gehör und scharfe Augen haben, wofern sie der Lebensgefahr entgehen und ihren Fraß finden solten. Katzen und Eulen mußten im fin- stern sehen können, weil sie Ungeziefer mit vertilgen müssen, wel- ches bei Nachtzeit umher streift. Von der Empfindlichkeit der Spinne hänget ihr Fang ab, und die Fühlhörner der Jnsekten müssen die Stelle von einigen Sinnen zugleich vertreten.
Gottes Güte bei unsern mangelhaften Sinnen ist einleuchtend; denn sie sind so genan abgemessen, daß wir ver- lören, wenn sie schärfer oder stumpfer wären. Scharfsichtigere Augen würden uns so viel Gewürm allenthalben entdecken, daß uns Blumen, Obst, Speise und Trank verekelt würden. Sähen wir die Milbe so groß, wie wir jetzt ein Schaf sehen, so wäre das eine neue Welt für uns. Wir würden so viele zerstreuende Beobachtungen anstellen, daß wir unsern Hauptzweck darüber vergässen. Wären aber unsre Augen blöder wie jetzt, so wäre das in vielen Fällen ein Unglück: dann kennten wir die Pracht des Sternhimmels nicht. Schärfer Gehör verstattete uns keine Ruhe, und das unaufhörliche Gesumse in der Luft würde uns trun- ken und verwirrt machen. Ein tauber Gehör aber beraubte uns
des
Der 26te Mai.
Verſagt dir Gott ein irdiſch Gut, Menſch! ſo verſagt er dirs aus Liebe; Denn was er unterlaͤßt und thut, Geſchieht aus gleichem Zweck und Triebe.
Jeder unſrer fuͤnf Sinne befindet ſich bei gewiſſen Thieren in weit ſchaͤrferm und vollkommnerm Grade. Sollen wir ſie deswegen beneiden? Jhnen waren ſie ihrer Schwaͤche und Dum- heit wegen noͤthig: wir aber bekamen Verſtand, der alles erſetzt, was unſern Sinnen abgeht. Raubthiere mußten leiſes Gehoͤr und ſcharfe Augen haben, wofern ſie der Lebensgefahr entgehen und ihren Fraß finden ſolten. Katzen und Eulen mußten im fin- ſtern ſehen koͤnnen, weil ſie Ungeziefer mit vertilgen muͤſſen, wel- ches bei Nachtzeit umher ſtreift. Von der Empfindlichkeit der Spinne haͤnget ihr Fang ab, und die Fuͤhlhoͤrner der Jnſekten muͤſſen die Stelle von einigen Sinnen zugleich vertreten.
Gottes Guͤte bei unſern mangelhaften Sinnen iſt einleuchtend; denn ſie ſind ſo genan abgemeſſen, daß wir ver- loͤren, wenn ſie ſchaͤrfer oder ſtumpfer waͤren. Scharfſichtigere Augen wuͤrden uns ſo viel Gewuͤrm allenthalben entdecken, daß uns Blumen, Obſt, Speiſe und Trank verekelt wuͤrden. Saͤhen wir die Milbe ſo groß, wie wir jetzt ein Schaf ſehen, ſo waͤre das eine neue Welt fuͤr uns. Wir wuͤrden ſo viele zerſtreuende Beobachtungen anſtellen, daß wir unſern Hauptzweck daruͤber vergaͤſſen. Waͤren aber unſre Augen bloͤder wie jetzt, ſo waͤre das in vielen Faͤllen ein Ungluͤck: dann kennten wir die Pracht des Sternhimmels nicht. Schaͤrfer Gehoͤr verſtattete uns keine Ruhe, und das unaufhoͤrliche Geſumſe in der Luft wuͤrde uns trun- ken und verwirrt machen. Ein tauber Gehoͤr aber beraubte uns
des
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0340"n="303[333]"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b">Der 26<hirendition="#sup">te</hi> Mai.</hi></head><lb/><lgtype="poem"><l><hirendition="#in">V</hi>erſagt dir Gott ein irdiſch Gut,</l><lb/><l>Menſch! ſo verſagt er dirs aus Liebe;</l><lb/><l>Denn was er unterlaͤßt und thut,</l><lb/><l>Geſchieht aus gleichem Zweck und Triebe.</l></lg><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p><hirendition="#in">J</hi>eder unſrer fuͤnf Sinne befindet ſich bei gewiſſen Thieren in<lb/>
weit ſchaͤrferm und vollkommnerm Grade. Sollen wir ſie<lb/>
deswegen beneiden? Jhnen waren ſie ihrer Schwaͤche und Dum-<lb/>
heit wegen noͤthig: wir aber bekamen Verſtand, der alles erſetzt,<lb/>
was unſern Sinnen abgeht. Raubthiere mußten leiſes Gehoͤr<lb/>
und ſcharfe Augen haben, wofern ſie der Lebensgefahr entgehen<lb/>
und ihren Fraß finden ſolten. Katzen und Eulen mußten im fin-<lb/>ſtern ſehen koͤnnen, weil ſie Ungeziefer mit vertilgen muͤſſen, wel-<lb/>
ches bei Nachtzeit umher ſtreift. Von der Empfindlichkeit der<lb/>
Spinne haͤnget ihr Fang ab, und die Fuͤhlhoͤrner der Jnſekten<lb/>
muͤſſen die Stelle von einigen Sinnen zugleich vertreten.</p><lb/><p><hirendition="#fr">Gottes Guͤte bei unſern mangelhaften Sinnen</hi><lb/>
iſt einleuchtend; denn ſie ſind ſo genan abgemeſſen, daß wir ver-<lb/>
loͤren, wenn ſie ſchaͤrfer oder ſtumpfer waͤren. Scharfſichtigere<lb/>
Augen wuͤrden uns ſo viel Gewuͤrm allenthalben entdecken, daß<lb/>
uns Blumen, Obſt, Speiſe und Trank verekelt wuͤrden. Saͤhen<lb/>
wir die Milbe ſo groß, wie wir jetzt ein Schaf ſehen, ſo waͤre<lb/>
das eine neue Welt fuͤr uns. Wir wuͤrden ſo viele zerſtreuende<lb/>
Beobachtungen anſtellen, daß wir unſern Hauptzweck daruͤber<lb/>
vergaͤſſen. Waͤren aber unſre Augen bloͤder wie jetzt, ſo waͤre<lb/>
das in vielen Faͤllen ein Ungluͤck: dann kennten wir die Pracht<lb/>
des Sternhimmels nicht. Schaͤrfer Gehoͤr verſtattete uns keine<lb/>
Ruhe, und das unaufhoͤrliche Geſumſe in der Luft wuͤrde uns trun-<lb/>
ken und verwirrt machen. Ein tauber Gehoͤr aber beraubte uns<lb/><fwplace="bottom"type="catch">des</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[303[333]/0340]
Der 26te Mai.
Verſagt dir Gott ein irdiſch Gut,
Menſch! ſo verſagt er dirs aus Liebe;
Denn was er unterlaͤßt und thut,
Geſchieht aus gleichem Zweck und Triebe.
Jeder unſrer fuͤnf Sinne befindet ſich bei gewiſſen Thieren in
weit ſchaͤrferm und vollkommnerm Grade. Sollen wir ſie
deswegen beneiden? Jhnen waren ſie ihrer Schwaͤche und Dum-
heit wegen noͤthig: wir aber bekamen Verſtand, der alles erſetzt,
was unſern Sinnen abgeht. Raubthiere mußten leiſes Gehoͤr
und ſcharfe Augen haben, wofern ſie der Lebensgefahr entgehen
und ihren Fraß finden ſolten. Katzen und Eulen mußten im fin-
ſtern ſehen koͤnnen, weil ſie Ungeziefer mit vertilgen muͤſſen, wel-
ches bei Nachtzeit umher ſtreift. Von der Empfindlichkeit der
Spinne haͤnget ihr Fang ab, und die Fuͤhlhoͤrner der Jnſekten
muͤſſen die Stelle von einigen Sinnen zugleich vertreten.
Gottes Guͤte bei unſern mangelhaften Sinnen
iſt einleuchtend; denn ſie ſind ſo genan abgemeſſen, daß wir ver-
loͤren, wenn ſie ſchaͤrfer oder ſtumpfer waͤren. Scharfſichtigere
Augen wuͤrden uns ſo viel Gewuͤrm allenthalben entdecken, daß
uns Blumen, Obſt, Speiſe und Trank verekelt wuͤrden. Saͤhen
wir die Milbe ſo groß, wie wir jetzt ein Schaf ſehen, ſo waͤre
das eine neue Welt fuͤr uns. Wir wuͤrden ſo viele zerſtreuende
Beobachtungen anſtellen, daß wir unſern Hauptzweck daruͤber
vergaͤſſen. Waͤren aber unſre Augen bloͤder wie jetzt, ſo waͤre
das in vielen Faͤllen ein Ungluͤck: dann kennten wir die Pracht
des Sternhimmels nicht. Schaͤrfer Gehoͤr verſtattete uns keine
Ruhe, und das unaufhoͤrliche Geſumſe in der Luft wuͤrde uns trun-
ken und verwirrt machen. Ein tauber Gehoͤr aber beraubte uns
des
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 303[333]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/340>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.