Herr! lehre mich, wann ich der Tugend diene, Daß nicht mein Herz des Stolzes sich erkühne, Und nicht auf sie vermessen sey! Herr! lehre mich, wie oft ich fehle, merken: Was ist der Mensch bei seinen besten Werken? Wann sind sie von Gebrechen frei?
Und wäre ich der Heiligste dieses Jahrhunderts, und hätte ich alles gethan, was ein Nachfolger Jesu thun kan: so wolte ich jetzt, ehrfurchtsvoll müßte ich bekennen: Herr! der Frömm- ste ist ein unnützer Knecht! Und wenn du mit mir rechten wilst, so kann ich dir auf tausend nicht ein Wort antworten.
Wie viel sind denn meiner Tugenden? Kan ich wol auf jede Stunde meines Daseyns eine einzige rechnen? Was ist aber eine minutenlange Tugend gegen den langen Lebenslauf einer Stunde? Und mögte doch alles verschlafen seyn: aber ich wachte, war thätig und säete Unkraut! Jedes unterlaßne Lob Gottes, jede vernachläßigte Liebe des Nächsten, ist eine himmelschreiende Sünde: und kan ich bei diesem Geschrei die Schmeicheleien mei- ner wenigen Tugenden hören? Jede Stunde, wo ich gemächlich da saß, und mich blos mit meinen Vorzügen, mit den Fehltrit- ten meines Nächsten, oder mit den Ausstaffirungen meines Kör- pers unterhielte: eine jede solcher Stunden ward Gotte geraubt, und ich war des Daseyns nicht werth. Also der Hölle werth! Und das oft, wenn ich die beste Rolle zu spielen glaubte.
Aber ich will meiner Eigenliebe alles zugeben. Meine Tu- genden sollen unzählig seyn. Tretet denn heran, ihr meine Sach-
walter!
R 3
Der 5te Mai.
Herr! lehre mich, wann ich der Tugend diene, Daß nicht mein Herz des Stolzes ſich erkuͤhne, Und nicht auf ſie vermeſſen ſey! Herr! lehre mich, wie oft ich fehle, merken: Was iſt der Menſch bei ſeinen beſten Werken? Wann ſind ſie von Gebrechen frei?
Und waͤre ich der Heiligſte dieſes Jahrhunderts, und haͤtte ich alles gethan, was ein Nachfolger Jeſu thun kan: ſo wolte ich jetzt, ehrfurchtsvoll muͤßte ich bekennen: Herr! der Froͤmm- ſte iſt ein unnuͤtzer Knecht! Und wenn du mit mir rechten wilſt, ſo kann ich dir auf tauſend nicht ein Wort antworten.
Wie viel ſind denn meiner Tugenden? Kan ich wol auf jede Stunde meines Daſeyns eine einzige rechnen? Was iſt aber eine minutenlange Tugend gegen den langen Lebenslauf einer Stunde? Und moͤgte doch alles verſchlafen ſeyn: aber ich wachte, war thaͤtig und ſaͤete Unkraut! Jedes unterlaßne Lob Gottes, jede vernachlaͤßigte Liebe des Naͤchſten, iſt eine himmelſchreiende Suͤnde: und kan ich bei dieſem Geſchrei die Schmeicheleien mei- ner wenigen Tugenden hoͤren? Jede Stunde, wo ich gemaͤchlich da ſaß, und mich blos mit meinen Vorzuͤgen, mit den Fehltrit- ten meines Naͤchſten, oder mit den Ausſtaffirungen meines Koͤr- pers unterhielte: eine jede ſolcher Stunden ward Gotte geraubt, und ich war des Daſeyns nicht werth. Alſo der Hoͤlle werth! Und das oft, wenn ich die beſte Rolle zu ſpielen glaubte.
Aber ich will meiner Eigenliebe alles zugeben. Meine Tu- genden ſollen unzaͤhlig ſeyn. Tretet denn heran, ihr meine Sach-
walter!
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[261[291]/0298]
Der 5te Mai.
Herr! lehre mich, wann ich der Tugend diene,
Daß nicht mein Herz des Stolzes ſich erkuͤhne,
Und nicht auf ſie vermeſſen ſey!
Herr! lehre mich, wie oft ich fehle, merken:
Was iſt der Menſch bei ſeinen beſten Werken?
Wann ſind ſie von Gebrechen frei?
Und waͤre ich der Heiligſte dieſes Jahrhunderts, und haͤtte ich
alles gethan, was ein Nachfolger Jeſu thun kan: ſo wolte
ich jetzt, ehrfurchtsvoll muͤßte ich bekennen: Herr! der Froͤmm-
ſte iſt ein unnuͤtzer Knecht! Und wenn du mit mir rechten
wilſt, ſo kann ich dir auf tauſend nicht ein Wort antworten.
Wie viel ſind denn meiner Tugenden? Kan ich wol auf jede
Stunde meines Daſeyns eine einzige rechnen? Was iſt aber eine
minutenlange Tugend gegen den langen Lebenslauf einer Stunde?
Und moͤgte doch alles verſchlafen ſeyn: aber ich wachte, war
thaͤtig und ſaͤete Unkraut! Jedes unterlaßne Lob Gottes, jede
vernachlaͤßigte Liebe des Naͤchſten, iſt eine himmelſchreiende
Suͤnde: und kan ich bei dieſem Geſchrei die Schmeicheleien mei-
ner wenigen Tugenden hoͤren? Jede Stunde, wo ich gemaͤchlich
da ſaß, und mich blos mit meinen Vorzuͤgen, mit den Fehltrit-
ten meines Naͤchſten, oder mit den Ausſtaffirungen meines Koͤr-
pers unterhielte: eine jede ſolcher Stunden ward Gotte geraubt,
und ich war des Daſeyns nicht werth. Alſo der Hoͤlle werth!
Und das oft, wenn ich die beſte Rolle zu ſpielen glaubte.
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 261[291]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/298>, abgerufen am 30.12.2024.
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