Bin ich der Schöpfung Herr geworden, Daß, zügellos wie ein Tirann, Jch Mitgeschöpfe martern, morden Und, mir zur Lust, vernichten kan?
Jn dieser Jahreszeit hänget das Leben von Millionen Kreatu- ren von meinen Tritten, oder von meiner Willkühr ab. Es wimmelt alles von Geschöpfen, deren jedes von Gott zu gewissen Absichten auf dieses Jahr berufen und angestellet ward. Es kan unmöglich gleichgültig seyn, wie ich mich gegen sie verhalte. Es wird an jenem Tage auch unerwartete Ankläger geben! Denn wie vielen, auch ehrbaren Christen, dünken nicht unsre Pflich- ten in Absicht der Thiere eine übertriebne Heiligkeit!
Wir haben kein Recht über die Thiere, sie sind Werke des Allerhöchsten. Aber Erlaubniß haben wir, sie zu beherrschen, nach Nothdurft zu verzehren, durch sie unsern Wohlstand und unser Vergnügen zu befördern, und sie zu tödten und vertilgen, wenn sie unsrer Gesundheit und unserm Unterhalte gefährlich sind. Ge- hen wir weiter, so versündigen wir uns. Das Thierreich soll uns den Schöpfer näher kennen, fürchten und verherrlichen leh- ren. Jedes Thier verdienet demnach, als ein Bote Gottes an uns, eine gewisse Achtung.
Jch darf also nicht gleich jedes Thierchen zertreten, was sich meinen Füssen nähert; ihr Blut oder Lebenssaft ward von Gott auch abgewogen! Welcher unverantwortliche Leichtsinn, zum Zeit- vertreibe Jnsekten zu zermalmen, und, wie eine Pest der kleinen Geschöpfe, den Garten zu betreten! Dort schlüpfet ein Vogel stumm und melancholisch hin und wieder: die arme Mutter! man hat ihr Nest entdeckt und ihre Eier zertreten! Da krümmet
sich
Der 2te Mai.
Bin ich der Schoͤpfung Herr geworden, Daß, zuͤgellos wie ein Tirann, Jch Mitgeſchoͤpfe martern, morden Und, mir zur Luſt, vernichten kan?
Jn dieſer Jahreszeit haͤnget das Leben von Millionen Kreatu- ren von meinen Tritten, oder von meiner Willkuͤhr ab. Es wimmelt alles von Geſchoͤpfen, deren jedes von Gott zu gewiſſen Abſichten auf dieſes Jahr berufen und angeſtellet ward. Es kan unmoͤglich gleichguͤltig ſeyn, wie ich mich gegen ſie verhalte. Es wird an jenem Tage auch unerwartete Anklaͤger geben! Denn wie vielen, auch ehrbaren Chriſten, duͤnken nicht unſre Pflich- ten in Abſicht der Thiere eine uͤbertriebne Heiligkeit!
Wir haben kein Recht uͤber die Thiere, ſie ſind Werke des Allerhoͤchſten. Aber Erlaubniß haben wir, ſie zu beherrſchen, nach Nothdurft zu verzehren, durch ſie unſern Wohlſtand und unſer Vergnuͤgen zu befoͤrdern, und ſie zu toͤdten und vertilgen, wenn ſie unſrer Geſundheit und unſerm Unterhalte gefaͤhrlich ſind. Ge- hen wir weiter, ſo verſuͤndigen wir uns. Das Thierreich ſoll uns den Schoͤpfer naͤher kennen, fuͤrchten und verherrlichen leh- ren. Jedes Thier verdienet demnach, als ein Bote Gottes an uns, eine gewiſſe Achtung.
Jch darf alſo nicht gleich jedes Thierchen zertreten, was ſich meinen Fuͤſſen naͤhert; ihr Blut oder Lebensſaft ward von Gott auch abgewogen! Welcher unverantwortliche Leichtſinn, zum Zeit- vertreibe Jnſekten zu zermalmen, und, wie eine Peſt der kleinen Geſchoͤpfe, den Garten zu betreten! Dort ſchluͤpfet ein Vogel ſtumm und melancholiſch hin und wieder: die arme Mutter! man hat ihr Neſt entdeckt und ihre Eier zertreten! Da kruͤmmet
ſich
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[255[285]/0292]
Der 2te Mai.
Bin ich der Schoͤpfung Herr geworden,
Daß, zuͤgellos wie ein Tirann,
Jch Mitgeſchoͤpfe martern, morden
Und, mir zur Luſt, vernichten kan?
Jn dieſer Jahreszeit haͤnget das Leben von Millionen Kreatu-
ren von meinen Tritten, oder von meiner Willkuͤhr ab. Es
wimmelt alles von Geſchoͤpfen, deren jedes von Gott zu gewiſſen
Abſichten auf dieſes Jahr berufen und angeſtellet ward. Es kan
unmoͤglich gleichguͤltig ſeyn, wie ich mich gegen ſie verhalte. Es
wird an jenem Tage auch unerwartete Anklaͤger geben! Denn
wie vielen, auch ehrbaren Chriſten, duͤnken nicht unſre Pflich-
ten in Abſicht der Thiere eine uͤbertriebne Heiligkeit!
Wir haben kein Recht uͤber die Thiere, ſie ſind Werke des
Allerhoͤchſten. Aber Erlaubniß haben wir, ſie zu beherrſchen, nach
Nothdurft zu verzehren, durch ſie unſern Wohlſtand und unſer
Vergnuͤgen zu befoͤrdern, und ſie zu toͤdten und vertilgen, wenn
ſie unſrer Geſundheit und unſerm Unterhalte gefaͤhrlich ſind. Ge-
hen wir weiter, ſo verſuͤndigen wir uns. Das Thierreich ſoll
uns den Schoͤpfer naͤher kennen, fuͤrchten und verherrlichen leh-
ren. Jedes Thier verdienet demnach, als ein Bote Gottes an
uns, eine gewiſſe Achtung.
Jch darf alſo nicht gleich jedes Thierchen zertreten, was ſich
meinen Fuͤſſen naͤhert; ihr Blut oder Lebensſaft ward von Gott
auch abgewogen! Welcher unverantwortliche Leichtſinn, zum Zeit-
vertreibe Jnſekten zu zermalmen, und, wie eine Peſt der kleinen
Geſchoͤpfe, den Garten zu betreten! Dort ſchluͤpfet ein Vogel
ſtumm und melancholiſch hin und wieder: die arme Mutter!
man hat ihr Neſt entdeckt und ihre Eier zertreten! Da kruͤmmet
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 255[285]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/292>, abgerufen am 21.11.2024.
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