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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 6te April.
Hier durch Spott und Hohn:
Dort die Ehrenkron;
Hier im Hoffen und im Glauben:
Dort im Haben und im Schauen!


Wer von den allermeisten Menschen beßre Gedanken heget, als
von sich selbst; wer seine Tugenden leicht und seine Sün-
den schwer findet; wer sich schimpfen läßt, ohne wieder zu schim-
pfen; verläumdet wird, ohne wieder zu verläumden; lieber Scha-
den leidet als Schaden thut; keine Wohlthaten ohne schamhafte
Dankbegier empfängt; und bei allen diesen Tugenden, ohne einen
göttlichen Erlöser, sich nicht den Himmel verspricht: das ist
der Christ in seiner Niedrigkeit.

Fast alle andre Menschen halten sich für überklug, und dün-
ken sich witzig, wenn andre ihre Einfälle bewundern: der Christ
klaget über den Mangel seiner Einsichten, hält sich immer für ei-
nen Lehrling; schämet sich, wenn man ihm Lobsprüche beilegen
will, und erwartet seinen reifen Verstand erst in jenem Leben. Alle
Wissenschaften sind ihm wie nichts gegen den Gedanken: daß Je-
sus Christus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu ma-
chen. Phil. 3, 7. 8.

Der Fromme findet in seinem Herzen so viel Thorheit, als
Sünder Tugenden in dem ihrigen finden. Der Gottlose ist so
entschuldigungsreich, daß er Laster zu entschuldigen waget, bei de-
ren blossen Anhörung der Tugendhafte sich schämt. Jch bin zu
gut, ist das Sprichtwort der Frevler: ich bin zu böse, ist der
Wahlspruch der Frommen. Jener nimt alles aufleichte Achseln:
diesem wird jede Veränderung schwer, und er überlegt oft Hand-
lungen, welche jener im Schlaf und im Lachen begehen würde.

Auch
N 5


Der 6te April.
Hier durch Spott und Hohn:
Dort die Ehrenkron;
Hier im Hoffen und im Glauben:
Dort im Haben und im Schauen!


Wer von den allermeiſten Menſchen beßre Gedanken heget, als
von ſich ſelbſt; wer ſeine Tugenden leicht und ſeine Suͤn-
den ſchwer findet; wer ſich ſchimpfen laͤßt, ohne wieder zu ſchim-
pfen; verlaͤumdet wird, ohne wieder zu verlaͤumden; lieber Scha-
den leidet als Schaden thut; keine Wohlthaten ohne ſchamhafte
Dankbegier empfaͤngt; und bei allen dieſen Tugenden, ohne einen
goͤttlichen Erloͤſer, ſich nicht den Himmel verſpricht: das iſt
der Chriſt in ſeiner Niedrigkeit.

Faſt alle andre Menſchen halten ſich fuͤr uͤberklug, und duͤn-
ken ſich witzig, wenn andre ihre Einfaͤlle bewundern: der Chriſt
klaget uͤber den Mangel ſeiner Einſichten, haͤlt ſich immer fuͤr ei-
nen Lehrling; ſchaͤmet ſich, wenn man ihm Lobſpruͤche beilegen
will, und erwartet ſeinen reifen Verſtand erſt in jenem Leben. Alle
Wiſſenſchaften ſind ihm wie nichts gegen den Gedanken: daß Je-
ſus Chriſtus in die Welt gekommen iſt, die Suͤnder ſelig zu ma-
chen. Phil. 3, 7. 8.

Der Fromme findet in ſeinem Herzen ſo viel Thorheit, als
Suͤnder Tugenden in dem ihrigen finden. Der Gottloſe iſt ſo
entſchuldigungsreich, daß er Laſter zu entſchuldigen waget, bei de-
ren bloſſen Anhoͤrung der Tugendhafte ſich ſchaͤmt. Jch bin zu
gut, iſt das Sprichtwort der Frevler: ich bin zu boͤſe, iſt der
Wahlſpruch der Frommen. Jener nimt alles aufleichte Achſeln:
dieſem wird jede Veraͤnderung ſchwer, und er uͤberlegt oft Hand-
lungen, welche jener im Schlaf und im Lachen begehen wuͤrde.

Auch
N 5
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[201[231]/0238] Der 6te April. Hier durch Spott und Hohn: Dort die Ehrenkron; Hier im Hoffen und im Glauben: Dort im Haben und im Schauen! Wer von den allermeiſten Menſchen beßre Gedanken heget, als von ſich ſelbſt; wer ſeine Tugenden leicht und ſeine Suͤn- den ſchwer findet; wer ſich ſchimpfen laͤßt, ohne wieder zu ſchim- pfen; verlaͤumdet wird, ohne wieder zu verlaͤumden; lieber Scha- den leidet als Schaden thut; keine Wohlthaten ohne ſchamhafte Dankbegier empfaͤngt; und bei allen dieſen Tugenden, ohne einen goͤttlichen Erloͤſer, ſich nicht den Himmel verſpricht: das iſt der Chriſt in ſeiner Niedrigkeit. Faſt alle andre Menſchen halten ſich fuͤr uͤberklug, und duͤn- ken ſich witzig, wenn andre ihre Einfaͤlle bewundern: der Chriſt klaget uͤber den Mangel ſeiner Einſichten, haͤlt ſich immer fuͤr ei- nen Lehrling; ſchaͤmet ſich, wenn man ihm Lobſpruͤche beilegen will, und erwartet ſeinen reifen Verſtand erſt in jenem Leben. Alle Wiſſenſchaften ſind ihm wie nichts gegen den Gedanken: daß Je- ſus Chriſtus in die Welt gekommen iſt, die Suͤnder ſelig zu ma- chen. Phil. 3, 7. 8. Der Fromme findet in ſeinem Herzen ſo viel Thorheit, als Suͤnder Tugenden in dem ihrigen finden. Der Gottloſe iſt ſo entſchuldigungsreich, daß er Laſter zu entſchuldigen waget, bei de- ren bloſſen Anhoͤrung der Tugendhafte ſich ſchaͤmt. Jch bin zu gut, iſt das Sprichtwort der Frevler: ich bin zu boͤſe, iſt der Wahlſpruch der Frommen. Jener nimt alles aufleichte Achſeln: dieſem wird jede Veraͤnderung ſchwer, und er uͤberlegt oft Hand- lungen, welche jener im Schlaf und im Lachen begehen wuͤrde. Auch N 5

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 201[231]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/238>, abgerufen am 21.11.2024.