Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite


Der 30te März.
So füß ein Laster ist,
So gibts doch keinen Frieden:
Der Tugend nur allein
Hat Gott dis Glück beschieden.
Ein Mensch, der Gott gehorcht,
Erwählt das beste Theil;
Ein Mensch der Gott verläßt,
Verläßt sein eignes Heil.


Könte man irgend einer Tugend aufbürden, daß sie den Men-
schen so ungesund mache, als Trunkenheit, Rachgier und
Geilheit; daß sie solche Verachtung zuziehe, als Geiz, Verläum-
dung und Dieberei: oder daß sie solche Arbeit und Gefahren mit
sich führe, als Ehrgeiz, Betrug und Tollkühnheit: alsdann würde
man diejenigen auszischen, welche die Tugend liebenswerth und
das Laster greulich schildern. So aber sind alle Laster, wenn sie
am schönsten sind, ein übertünchtes Grab; von aussen gemahlte
Blumen, inwendig Todengebein. Die Frucht von Tugend
und Laster
ist für den Tugendlehrer ein triftiges Argument.

Der Mensch soll noch geboren werden, der sterbend sagen
könte: mich machten die Laster glücklich; sie vergnügten mein Le-
ben und versüssen mir den Tod! Aber vieleicht hat das Weltmeer
nicht so viel Tropfen, als schon aus den Augen der Lasterhaften
geströmet sind. Es gibt ein Gift, welches erst dem Scheine nach
zu lachen macht, und dann den Tod oder die schwerste Zufälle
verursacht: dieser Art des Gifts sind alle Laster ähnlich. Anfangs
Freude, das Ende Wehklagen. Und auch die kurze Freude des
Lasters muß theuer erkauft werden. Ohne Gesundheit, Geld

und
M 5


Der 30te Maͤrz.
So fuͤß ein Laſter iſt,
So gibts doch keinen Frieden:
Der Tugend nur allein
Hat Gott dis Gluͤck beſchieden.
Ein Menſch, der Gott gehorcht,
Erwaͤhlt das beſte Theil;
Ein Menſch der Gott verlaͤßt,
Verlaͤßt ſein eignes Heil.


Koͤnte man irgend einer Tugend aufbuͤrden, daß ſie den Men-
ſchen ſo ungeſund mache, als Trunkenheit, Rachgier und
Geilheit; daß ſie ſolche Verachtung zuziehe, als Geiz, Verlaͤum-
dung und Dieberei: oder daß ſie ſolche Arbeit und Gefahren mit
ſich fuͤhre, als Ehrgeiz, Betrug und Tollkuͤhnheit: alsdann wuͤrde
man diejenigen ausziſchen, welche die Tugend liebenswerth und
das Laſter greulich ſchildern. So aber ſind alle Laſter, wenn ſie
am ſchoͤnſten ſind, ein uͤbertuͤnchtes Grab; von auſſen gemahlte
Blumen, inwendig Todengebein. Die Frucht von Tugend
und Laſter
iſt fuͤr den Tugendlehrer ein triftiges Argument.

Der Menſch ſoll noch geboren werden, der ſterbend ſagen
koͤnte: mich machten die Laſter gluͤcklich; ſie vergnuͤgten mein Le-
ben und verſuͤſſen mir den Tod! Aber vieleicht hat das Weltmeer
nicht ſo viel Tropfen, als ſchon aus den Augen der Laſterhaften
geſtroͤmet ſind. Es gibt ein Gift, welches erſt dem Scheine nach
zu lachen macht, und dann den Tod oder die ſchwerſte Zufaͤlle
verurſacht: dieſer Art des Gifts ſind alle Laſter aͤhnlich. Anfangs
Freude, das Ende Wehklagen. Und auch die kurze Freude des
Laſters muß theuer erkauft werden. Ohne Geſundheit, Geld

und
M 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0222" n="185[215]"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Der 30<hi rendition="#sup">te</hi> Ma&#x0364;rz.</hi> </head><lb/>
            <lg type="poem">
              <l><hi rendition="#in">S</hi>o fu&#x0364;ß ein La&#x017F;ter i&#x017F;t,</l><lb/>
              <l>So gibts doch keinen Frieden:</l><lb/>
              <l>Der Tugend nur allein</l><lb/>
              <l>Hat Gott dis Glu&#x0364;ck be&#x017F;chieden.</l><lb/>
              <l>Ein Men&#x017F;ch, der Gott gehorcht,</l><lb/>
              <l>Erwa&#x0364;hlt das be&#x017F;te Theil;</l><lb/>
              <l>Ein Men&#x017F;ch der Gott verla&#x0364;ßt,</l><lb/>
              <l>Verla&#x0364;ßt &#x017F;ein eignes Heil.</l>
            </lg><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p><hi rendition="#in">K</hi>o&#x0364;nte man irgend einer Tugend aufbu&#x0364;rden, daß &#x017F;ie den Men-<lb/>
&#x017F;chen &#x017F;o unge&#x017F;und mache, als Trunkenheit, Rachgier und<lb/>
Geilheit; daß &#x017F;ie &#x017F;olche Verachtung zuziehe, als Geiz, Verla&#x0364;um-<lb/>
dung und Dieberei: oder daß &#x017F;ie &#x017F;olche Arbeit und Gefahren mit<lb/>
&#x017F;ich fu&#x0364;hre, als Ehrgeiz, Betrug und Tollku&#x0364;hnheit: alsdann wu&#x0364;rde<lb/>
man diejenigen auszi&#x017F;chen, welche die Tugend liebenswerth und<lb/>
das La&#x017F;ter greulich &#x017F;childern. So aber &#x017F;ind alle La&#x017F;ter, wenn &#x017F;ie<lb/>
am &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten &#x017F;ind, ein u&#x0364;bertu&#x0364;nchtes Grab; von au&#x017F;&#x017F;en gemahlte<lb/>
Blumen, inwendig Todengebein. <hi rendition="#fr">Die Frucht von Tugend<lb/>
und La&#x017F;ter</hi> i&#x017F;t fu&#x0364;r den Tugendlehrer ein triftiges Argument.</p><lb/>
            <p>Der Men&#x017F;ch &#x017F;oll noch geboren werden, der &#x017F;terbend &#x017F;agen<lb/>
ko&#x0364;nte: mich machten die La&#x017F;ter glu&#x0364;cklich; &#x017F;ie vergnu&#x0364;gten mein Le-<lb/>
ben und ver&#x017F;u&#x0364;&#x017F;&#x017F;en mir den Tod! Aber vieleicht hat das Weltmeer<lb/>
nicht &#x017F;o viel Tropfen, als &#x017F;chon aus den Augen der La&#x017F;terhaften<lb/>
ge&#x017F;tro&#x0364;met &#x017F;ind. Es gibt ein Gift, welches er&#x017F;t dem Scheine nach<lb/>
zu lachen macht, und dann den Tod oder die &#x017F;chwer&#x017F;te Zufa&#x0364;lle<lb/>
verur&#x017F;acht: die&#x017F;er Art des Gifts &#x017F;ind alle La&#x017F;ter a&#x0364;hnlich. Anfangs<lb/>
Freude, das Ende Wehklagen. Und auch die kurze Freude des<lb/>
La&#x017F;ters muß theuer erkauft werden. Ohne Ge&#x017F;undheit, Geld<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">M 5</fw><fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[185[215]/0222] Der 30te Maͤrz. So fuͤß ein Laſter iſt, So gibts doch keinen Frieden: Der Tugend nur allein Hat Gott dis Gluͤck beſchieden. Ein Menſch, der Gott gehorcht, Erwaͤhlt das beſte Theil; Ein Menſch der Gott verlaͤßt, Verlaͤßt ſein eignes Heil. Koͤnte man irgend einer Tugend aufbuͤrden, daß ſie den Men- ſchen ſo ungeſund mache, als Trunkenheit, Rachgier und Geilheit; daß ſie ſolche Verachtung zuziehe, als Geiz, Verlaͤum- dung und Dieberei: oder daß ſie ſolche Arbeit und Gefahren mit ſich fuͤhre, als Ehrgeiz, Betrug und Tollkuͤhnheit: alsdann wuͤrde man diejenigen ausziſchen, welche die Tugend liebenswerth und das Laſter greulich ſchildern. So aber ſind alle Laſter, wenn ſie am ſchoͤnſten ſind, ein uͤbertuͤnchtes Grab; von auſſen gemahlte Blumen, inwendig Todengebein. Die Frucht von Tugend und Laſter iſt fuͤr den Tugendlehrer ein triftiges Argument. Der Menſch ſoll noch geboren werden, der ſterbend ſagen koͤnte: mich machten die Laſter gluͤcklich; ſie vergnuͤgten mein Le- ben und verſuͤſſen mir den Tod! Aber vieleicht hat das Weltmeer nicht ſo viel Tropfen, als ſchon aus den Augen der Laſterhaften geſtroͤmet ſind. Es gibt ein Gift, welches erſt dem Scheine nach zu lachen macht, und dann den Tod oder die ſchwerſte Zufaͤlle verurſacht: dieſer Art des Gifts ſind alle Laſter aͤhnlich. Anfangs Freude, das Ende Wehklagen. Und auch die kurze Freude des Laſters muß theuer erkauft werden. Ohne Geſundheit, Geld und M 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/222
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 185[215]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/222>, abgerufen am 03.07.2024.