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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 20te März.
Die Völker haben dein geharrt,
Bis daß die Zeit erfüllet ward:
Da sandte Gott von seinem Thron
Das Heil der Welt, dich, seinen Sohn!


Bei der Leidensgeschichte des Erlösers ist kein Umstand so ge-
ringe, daß er nicht Glauben oder Erbauung vermehren
solte. Die abgemeßne Leidenszeit Jesu verdient andäch-
tige Bewunderung von mir.

Ueberhaupt fiel die Menschwerdung Jesu und sein Wandel
auf Erden in die dazu günstigste Zeit. Vierzig Jahre früher oder
später, war im jüdischen Lande so viel Mord und Brand, daß der
Heiland und seine Jünger wenig Aufmerksamkeit erregen konten.
Gott aber winkte, und die Völker legten unter dem Kaiser Au-
gust die Waffen auf eine Zeitlang nieder. Jm tiefsten Frieden
trat also der Friedefürst auf, und jeder Jude konte ungestört zu
den Osterfesten nach Jerusalem reisen, und was er dort vom
Meßias gesehen und gehöret hatte, in seiner Heimat verbreiten.
Einige hundert Jahre früher waren Künste und Wissenschaften
noch wenig gestiegen und ausgebreitet, und einige Jahrhundert
später waren sie schon wieder im Verfall. Als Christus geboren
ward, hatten sie den höchsten Gipfel erreicht. Seine Lehren und
Werke hatten also die scharfsichtigsten Beobachter, da hingegen
Muhammed in einer Zeit und unter Völkern lebte, wo Dumheit
und Barbarei keine einsichtsvolle Prüfung erlaubten. Erschien
Jesus einige Jahre später, so war das Zepter von Juda ent-
wandt, keine richterliche Gewalt, Ansehen und Ordnung mehr
unter diesem Volke, und die Religion war durch die Pharisäer
völlig verunstaltet.

Die Zeit der Kreuzigung insbesondere war eben so wenig ein
blindes Ohngefehr. Hätte sich Jesus, nachdem er den Lazarus auf-

erweckt
L 3


Der 20te Maͤrz.
Die Voͤlker haben dein geharrt,
Bis daß die Zeit erfuͤllet ward:
Da ſandte Gott von ſeinem Thron
Das Heil der Welt, dich, ſeinen Sohn!


Bei der Leidensgeſchichte des Erloͤſers iſt kein Umſtand ſo ge-
ringe, daß er nicht Glauben oder Erbauung vermehren
ſolte. Die abgemeßne Leidenszeit Jeſu verdient andaͤch-
tige Bewunderung von mir.

Ueberhaupt fiel die Menſchwerdung Jeſu und ſein Wandel
auf Erden in die dazu guͤnſtigſte Zeit. Vierzig Jahre fruͤher oder
ſpaͤter, war im juͤdiſchen Lande ſo viel Mord und Brand, daß der
Heiland und ſeine Juͤnger wenig Aufmerkſamkeit erregen konten.
Gott aber winkte, und die Voͤlker legten unter dem Kaiſer Au-
guſt die Waffen auf eine Zeitlang nieder. Jm tiefſten Frieden
trat alſo der Friedefuͤrſt auf, und jeder Jude konte ungeſtoͤrt zu
den Oſterfeſten nach Jeruſalem reiſen, und was er dort vom
Meßias geſehen und gehoͤret hatte, in ſeiner Heimat verbreiten.
Einige hundert Jahre fruͤher waren Kuͤnſte und Wiſſenſchaften
noch wenig geſtiegen und ausgebreitet, und einige Jahrhundert
ſpaͤter waren ſie ſchon wieder im Verfall. Als Chriſtus geboren
ward, hatten ſie den hoͤchſten Gipfel erreicht. Seine Lehren und
Werke hatten alſo die ſcharfſichtigſten Beobachter, da hingegen
Muhammed in einer Zeit und unter Voͤlkern lebte, wo Dumheit
und Barbarei keine einſichtsvolle Pruͤfung erlaubten. Erſchien
Jeſus einige Jahre ſpaͤter, ſo war das Zepter von Juda ent-
wandt, keine richterliche Gewalt, Anſehen und Ordnung mehr
unter dieſem Volke, und die Religion war durch die Phariſaͤer
voͤllig verunſtaltet.

Die Zeit der Kreuzigung insbeſondere war eben ſo wenig ein
blindes Ohngefehr. Haͤtte ſich Jeſus, nachdem er den Lazarus auf-

erweckt
L 3
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[165[195]/0202] Der 20te Maͤrz. Die Voͤlker haben dein geharrt, Bis daß die Zeit erfuͤllet ward: Da ſandte Gott von ſeinem Thron Das Heil der Welt, dich, ſeinen Sohn! Bei der Leidensgeſchichte des Erloͤſers iſt kein Umſtand ſo ge- ringe, daß er nicht Glauben oder Erbauung vermehren ſolte. Die abgemeßne Leidenszeit Jeſu verdient andaͤch- tige Bewunderung von mir. Ueberhaupt fiel die Menſchwerdung Jeſu und ſein Wandel auf Erden in die dazu guͤnſtigſte Zeit. Vierzig Jahre fruͤher oder ſpaͤter, war im juͤdiſchen Lande ſo viel Mord und Brand, daß der Heiland und ſeine Juͤnger wenig Aufmerkſamkeit erregen konten. Gott aber winkte, und die Voͤlker legten unter dem Kaiſer Au- guſt die Waffen auf eine Zeitlang nieder. Jm tiefſten Frieden trat alſo der Friedefuͤrſt auf, und jeder Jude konte ungeſtoͤrt zu den Oſterfeſten nach Jeruſalem reiſen, und was er dort vom Meßias geſehen und gehoͤret hatte, in ſeiner Heimat verbreiten. Einige hundert Jahre fruͤher waren Kuͤnſte und Wiſſenſchaften noch wenig geſtiegen und ausgebreitet, und einige Jahrhundert ſpaͤter waren ſie ſchon wieder im Verfall. Als Chriſtus geboren ward, hatten ſie den hoͤchſten Gipfel erreicht. Seine Lehren und Werke hatten alſo die ſcharfſichtigſten Beobachter, da hingegen Muhammed in einer Zeit und unter Voͤlkern lebte, wo Dumheit und Barbarei keine einſichtsvolle Pruͤfung erlaubten. Erſchien Jeſus einige Jahre ſpaͤter, ſo war das Zepter von Juda ent- wandt, keine richterliche Gewalt, Anſehen und Ordnung mehr unter dieſem Volke, und die Religion war durch die Phariſaͤer voͤllig verunſtaltet. Die Zeit der Kreuzigung insbeſondere war eben ſo wenig ein blindes Ohngefehr. Haͤtte ſich Jeſus, nachdem er den Lazarus auf- erweckt L 3

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 165[195]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/202>, abgerufen am 21.11.2024.